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Die Kunst des Helfens

Zehn Jahre ist es her, da verheerte ein Tsunami im Indischen Ozean die Küsten von Indonesien und Sri Lanka, Indien und Thailand – mehr als 200 000 Menschen riss das Wasser in den Tod.Erste-Nothilfe-mit-Gütern-des-täglichen-Bedarfs
Das furchtbare Ereignis bewegte viele Menschen. Es gab in den Wochen nach der Naturkatastrophe eine bis dahin nicht gekannten Welle der Hilfsbereitschaft, ähnlich auch fünf Jahre später beim Erdbeben in Haiti.  So wurden viele Leben gerettet und tausenden Menschen neue Zukunftsperspektiven eröffnet. Dennoch gab es für Helfer wie für Spender einige Lektionen zu lernen: Gerade wenn die Not so extreme Ausmaße hat wie beim Tsunami oder beim Erdbeben in Haiti, ist die Gefahr  groß, dass die Hilfe nicht hilft und sogar schadet.

Die größte Falle für Helfer besteht darin, die betroffenen Menschen nur als Opfer und völlig hilflos zu sehen – und dadurch erst recht zu Opfern zu machen. So schwappte vor zehn Jahren die Welle der Hilfe über die Menschen, die Frage, ob Lösungen mit ihnen gefunden werden oder sie Hilfe zur Selbsthilfe brauchen, spielte kaum eine Rolle. Die ausländischen Experten gingen davon aus, dass sie schon wüssten, was am besten ist. Es musste schnell geholfen werden. Doch hinter das Gebot der Schnelligkeit traten die Gegebenheiten in den betroffenen Ländern, die Beteiligung der Menschen und ihre Eigenverantwortung zurück. Noch Monate nach der Flutwelle bekamen mancherorts Menschen weiterhin Essenslieferungen, obwohl sie sich längst wieder selbst versorgen konnten. Die Hilfe wurde dort zum Skandal.

Die Helfer von außen verstärkten zudem lokale Ungerechtigkeiten. Die politische und rechtliche Situation der betroffenen Länder traten in den Hintergrund; für eine sorgfältige Umfeldanalyse fehlte die Zeit.  In Sri Lanka traf der Tsunami viele Fischer, die am Meer lebten, aber nicht über Besitztitel für ihre Grundstücke verfügten. Sofort gab es mächtige Interessenten, die ihre Rückkehr dorthin verhindern wollten, um sich selbst dieses touristisch attraktive Land anzueignen.

Allen Akteuren werden, wenn solche Katastrophen geschehen, zunächst lautere Motive unterstellt – als ob in und mit der Not keine üblen Geschäfte gemacht würden. Preistreiberei und Korruption haben nach Katastrophen Hochkonjunktur – zum Beispiel beim Wiederaufbau im indonesischen Aceh. Dort klagten die Einheimischen, dass es  nur überteuerte, minderwertige Baumaterialien gebe. So mussten neue Häuser für Tsunami-Opfer  wieder abgerissen werden, weil der eingesetzte Zement nichts taugte.

Medien und Helfer verändern lokale Strukturen. Im Scheinwerferlicht der Kameras entwickeln Krisen und Katastrophen auch bei Hilfswerken ihre besondere Eigendynamik: Neben oder gar vor das Ziel der Hilfe tritt die Notwendigkeit, die eigene Marke zu profilieren. Kein Hilfswerk wird verhindern wollen, dass über die eigene Hilfe berichtet wird. Ebenso wächst das Bestreben, auf betont emotionale Weise zum Spenden zu animieren und dabei die eigene Lösungskompetenz zu demonstrieren. Damit steigt aber bei ohnehin großem Zeitdruck auch der Erfolgsdruck – und bei hohem Spendenaufkommen der Zwang, viel Geld kurzfristig in Vorzeigbares umzusetzen. Ganze Siedlungen nicht genutzter Notunterkünfte waren nach dem Tsunami zum Beispiel das Ergebnis aktionistischen Handelns. Wenn Geld und Helfer  von außen hereinströmen, ist die Gefahr groß, dass nicht nur das örtliche Preissystem aus den Fugen gerät, sondern Selbsthilfe geschwächt und Eigeninitiative verhindert wird. Selbsthilfe-Ansätze beim Wiederaufbau hatten es in den Tsunami-Gebieten und später in Haiti angesichts schlüsselfertig verschenkter Häuser sehr schwer.

Hilfswerke, die auf das Know-how lokaler Partnerorganisationen und auf Selbsthilfe setzen, machen dagegen die Erfahrung, dass vergleichsweise wenig spektakuläre Hilfen wie Zuschüsse zu den Telefonkosten lokaler Experten oft mehr bewirken als überstürzt geplante Baumaßnahmen. Nachhaltige Hilfe setzt dort an, wo die betroffenen Gemeinden selbst etwas tun können. Die Potenziale der Menschen werden jedoch allzu oft nicht wahrgenommen. Erfahrungen und Vertrautheit mit dem lokalen Kontext, mit Kultur und Sprache, scheinen kaum eine Rolle zu spielen. Schlagartig waren im indonesischen Aceh die Übersetzer  rar und teuer – die Fülle ortsfremder, sprachunkundiger ausländischer Helfer führte zu großen Schwierigkeiten bei der Koordination.

So schrecklich eine Katastrophe auch ist, in ihr liegt  eine Chance zur Entwicklung. In Indonesien  begann nach dem Tsunami ein Friedensprozess zwischen Regierung und Aceh-Rebellen. Auch in Haiti oder jüngst in den Philippinen hat sich gezeigt, dass sich die Lage der Menschen vor allem dann bessert, wenn sie einbezogen, wenn gemeinsam neue Konzepte und Methoden entwickelt werden, von erdbebensicheren Bauten und verbessertem Design von Fischerbooten über die Berücksichtigung von ökologischen Aspekten bis hin zu mehr Geschlechtergerechtigkeit.

Die Hilfe kann also wirklich langfristig helfen, wenn eine Reihe von Prinzipien beachtet wird:  Weil in der Regel die Ärmsten am stärksten von Katastrophen betroffenen sind, müssen sie auch die am stärksten Begünstigten sein. Der Wiederaufbau sollte die Lebensverhältnisse  verbessern und erneute Katastrophen verhindern helfen. Dabei sind lokale Organisationen von zentraler Bedeutung: Sie sind und bleiben vor Ort, kennen sich aus und haben das Vertrauen der Betroffenen. Der Wiederaufbau gelang dort am besten, wo die Expertise lokaler und regionaler Akteure zusammenkam. In Banda Aceh zum Beispiel erhielten Überlebende mit Hilfe  lokaler Organisationen Rechtsbeistand beim Kampf um ihre Grundstücke; sie konnten so ihre Umsiedlung in entfernte Gebiete verhindern, die sie arbeitslos gemacht hätte.

Diese Form der Hilfe braucht  Zeit. Sie muss auf dem aufbauen, was die betroffenen Gemeinden selber leisten können. Sie wissen oft am besten, was gebraucht wird, und können vieles an Hilfe und Wiederaufbau selbst organisieren. Die Menschen müssen so schnell wie möglich aus der Opferperspektive und Untätigkeit herauskommen. In Haiti gelang das dort, wo die Menschen ihre neuen Häuser selbst aufgebaut haben,  statisch enorm verbessert und mit Materialien, die vor Ort verfügbar waren. Solche Häuser werden einem möglichen nächsten Erdbeben besser standhalten und sind stärker ans karibische Klima angepasst. Die Menschen in Haiti handelten  selbstständig, unterstützt unter anderem mit deutschem Spendengeld, fachlich beraten aus der Region. So traf die Hilfsbereitschaft der Wohlhabenden sie nicht wie ein weiteres Erdbeben, sondern stärkte ihre eigenen Kräfte.

Die „Außenansicht“ der Süddeutschen Zeitung zum zehnten Jahrestag des Tsunamis schrieb MISEREOR-Geschäftsführer Dr. Martin Bröckelmann.

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Dr. Martin Bröckelmann-Simon war bis September 2021 Geschäftsführer für Internationale Zusammenarbeit und verantwortete die Entwicklungszusammenarbeit mit Partnern in Afrika, Naher Osten, Asien, Ozeanien und Lateinamerika.

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