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Tödliche Hilfe oder: Lektionen aus dem Wiederaufbau in Haiti

Widerspruch gegen den Dokumentarfilm „Tödliche Hilfe“ von Raoul Peck, einem haitianischen Filmemacher, fällt schwer. Seine Beobachtungen führen zu dem Schluss, dass die internationale Unterstützung nach dem Erdbeben im Januar 2010 zu einem großen Teil ein Misserfolg war.

Das Modellhaus, das unter der Anleitung des Architekten Wilfredo Carrazas in Gemeinschaftsarbeit von Bauern der Organisation EPPMPH errichtet wurde

Ein Modellhaus, das unter der Anleitung des Architekten Wilfredo Carrazas in Gemeinschaftsarbeit von Bauern der Organisation EPPMPH errichtet wurde.

Als Hilfswerk der Entwicklungszusammenarbeit hat auch MISEREOR die Risiken und Fallstricke der Arbeit im Wiederaufbau kennengelernt. MISEREOR führt in armen Ländern generell keine eigenen Projekte durch, sondern kooperiert mit einheimischen Organisationen. Dieses Arbeitsprinzip unterscheidet sich grundlegend vom Ansatz derjenigen, die als ausländische Organisationen in solchen Ländern selber Projekte abwickeln. Im ländlichen Umfeld der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince hat MISEREOR Projekte mit der bäuerlichen Bevölkerung zu einem Schwerpunkt seiner Hilfe gemacht. Mindestens 1000 Häuser, so die Vereinbarung mit den Partnerorganisationen, sollten gebaut oder repariert werden. Der Bau von provisorischen Unterkünften stellte keine Alternative dar. Solche einfachen Behausungen aus Holzbrettern oder Plastikbahnen werden leider schnell zu Dauereinrichtungen. Heute belegen neue Elendssiedlungen am Stadtrand von Port-au-Prince wieder einmal die Untauglichkeit dieser Strategie.

Wilfredo Carazas, Architekt und Misereor-Consultant, unterrichtet lokale Bauarbeiter im erdbebensicheren Hausbau

Wilfredo Carazas, Architekt und Misereor-Consultant, unterrichtet lokale Bauarbeiter im erdbebensicheren Hausbau

Fünf Partnerorganisationen trafen sich im September 2010, um mit MISEREOR die letzten Absprachen vor dem Baubeginn zu treffen. Die Reaktion war ernüchternd.Die ursprünglich vereinbarte MISEREOR-Strategie, sich auf eine kleine, später eigenverantwortlich erweiterbare Grundeinheit von 22 Quadratmetern zu beschränken, wurde in Frage gestellt. Mindestens 35 Quadratmeter sollten es sein, so wie andere Hilfsorganisationen es realisierten. Unser Konzept, das vorsah, möglichst viele Menschen mit einer „kleinen“ Lösung statt wenige Familien mit einer „großen“ Lösung zu unterstützen, stellte sich aus der Perspektive anderer nicht als optimale Lösung dar. Dabei sollten lokale Materialien (Sand, Erde, Steine, Holz) je nach Verfügbarkeit verwendet und kein Einheitsmodell gebaut werden. Die Gebäude sollten flexibel dem jeweiligen Bedarf und lokalen Kontext angepasst werden.
Andere Hilfsorganisationen setzten auf die besagte große Lösung, unter Verwendung von „modernen“ Materialien wie Beton und Betonsteinen. Die Vorteile lagen scheinbar auf der Hand: Übersichtliche Kosten, ein geringer Aufwand für Vorbereitung und Begleitung der Baumaßnahmen sowie einfache Planung und Kontrolle. Die relativ hohen Kosten pro Wohneinheit stellten dabei kein prinzipielles Problem dar. Im Gegenteil: Der Druck von außen auf die Hilfsorganisationen, schnell einen möglichst hohen Teil der für Haiti gespendeten Gelder umzusetzen, begünstigte weder die Suche nach den sparsamsten Lösungen noch die vorrangige Nutzung lokaler Materialien und die breite Beteiligung der betroffenen Bevölkerung.

Die Baumaterialien sind preisgünstig und lokal verfügbar, Dorf Coq Chante nahe Jacmel, Haiti,

Die Baumaterialien sind preisgünstig und lokal verfügbar. Auf den neuesten Stand im erdbebensicheren Bauen gebracht, engagieren sich hier die ortsansässigen Männer für den Aufbau neuer Unterkünfte.

Die lokalen, haitianischen Partnerorganisationen von MISEREOR wiederum sahen sich angesichts der weitreichenden Angebote anderer Hilfswerke einem hohen Erwartungsdruck der Bevölkerung ausgesetzt, möglichst komplette Lösungen und umfassende Hilfe anzubieten. Sie wollten nicht diejenigen sein, die eine höhere Beteiligung der Bevölkerung für ein kleineres Haus einforderten.

In dieser Gemengelage unterschiedlicher Interessen und Erwartungen besteht das Risiko, dass Helfende und Hilfsempfänger eine zweifelhafte Allianz eingehen. Die Betroffenen verweisen auf ihre Notlage und Bedürftigkeit, während die Hilfsorganisationen ihre großzügige Unterstützung mit der Hilflosigkeit der Menschen rechtfertigen. Das Ergebnis: Die Wahrnehmung der Betroffenen als handlungsunfähige Opfer wird verstärkt, die Helfer ziehen alle Initiative an sich, erscheinen als die entscheidenden Akteure des Wiederaufbaus, während die Betroffenen die Verantwortung an die Helfer abgeben in der Hoffnung auf größtmögliche Unterstützung. Die von MISEREOR mit den lokalen Organisationen besprochene Leitidee, eben nicht nur punktuell direkt betroffenen Erdbebenopfern zu helfen, sondern einen Beitrag zur Verbesserung der generell prekären Wohnsituation zu leisten, hätte so nicht Wirklichkeit werden können. Am Ende haben sich fast alle beteiligten Organisationen dann doch auf das Konzept von MISEREOR eingelassen. Was nach fünf Jahren bleibt, sind knapp 1000 fertiggestellte Häuser, hunderte ausgebildete Handwerker und Familien, die ihre Erfahrungen und ihr Wissen weitergeben, sowie ein Wiederbeleben traditioneller Strukturen und der Gemeinschaftsarbeit.

Das Modell von Misereor sieht eine mit Lehm und Steinen gefüllte Fachwerkstruktur aus Holz vor.

Das Modell von Misereor sieht eine mit Lehm und Steinen gefüllte Fachwerkstruktur aus Holz vor. Aber auch Tipps und  Ideen zur Reparatur des eigenen Hauses waren ein wichtiger wichtiger Bestandteil der Wiederaufbauarbeit.

Das Ganze war ein ständiger Prozess der Anpassung von Konzepten und Methoden. So bekam die Reparatur im Projektverlauf größere Bedeutung als der Neubau. Die Reparatur des „eigenen“ Hauses, so die Erfahrung von MISEREOR, schafft eine andere Identifikation der Eigentümer mit dem Gebäude als die Inbesitznahme eines Hauses, das quasi von der Hilfsorganisation „mitgebracht“ wird. Deutlich mehr Beachtung fand auch die Aktivierung der lokalen Wirtschaft durch das Bemühen, so viele Ressourcen wie möglich aus den lokalen ökonomischen Kreisläufen zu nutzen und dort zu belassen. Erst neun Monate nach dem Erdbeben wurde mit dem Bau des ersten Hauses begonnen; auch diese Trägheit des Prozesses setzt voraus, dass man Geduld hat, sich und allen Beteiligten die Zeit lässt, eigene Entscheidungen zu treffen. Wer diese Zeit nicht hat, eilt voraus und lässt andere zurück.

Heinz Oelers war beim katholischen Entwicklungshilfswerk MISEREOR als Regionalreferent für Haiti tätig und ist aktuell Gruppenleiter in der Lateinamerika-Abteilung von MISEREOR

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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