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Haiti: Mit dem Esel durchs Flussbett

Wiederaufbau im Katastrophengebiet: Wie die Architektin Sophie Marongiu den Erdbebenopfern in Haiti hilft.Bis zu fünf Stunden Fußmarsch dauert es, um die Projekte um den Riviere Froide zu erreichen_Florian Kopp

„Haben wir wirklich nur diesen einen Esel?“. Erschöpft blickt der Fotograf auf das mit Rucksäcken, Wasserkanistern und einem Reissack beladene Tier. Alle müssen laufen, in der prallen Mittagssonne. Zunächst durch ein Flussbett, dann steinige, schmale Bergpfade hinauf. Eine Stunde Fußmarsch liegt hinter uns. Sophie Marongiu lacht, nickt und nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette. „Manchmal weiß ich selber nicht, wie ich das hier all die Jahre geschafft habe.“ Die zierliche Architektin lässt ihren Blick über den Fluss zu ihren Füßen schweifen.Sophie Marongiu, 42, Architektin aus Saint-Malo_Florian Kopp

Fast zwei Jahre lang ging die „blanche „, die „weiße Frau “ aus Saint-Malo in der französischen Bretagne, regelmäßig diesen Weg. Zu vielen der kleinen Siedlungen im Gebirge rund um Carrefour, die zweitgrößte Stadt im Süden des Karibikstaates Haiti, die einzig mögliche Route. Im Sommer stand ihr das reißende Wasser des Rivière Froide teils bis zur Hüfte, jetzt seifen sich inmitten des Flusses, der sich durch die karge Berglandschaft am Rande der Stadt schlängelt, Jungen den Oberkörper ein. Familien breiten am Ufer frisch gewaschene Kleidungsstücke, die wie bunte Mosaike leuchten, auf den Steinen aus. Kinder balancieren scheinbar ohne Mühe mächtige Körbe aus Sisal, Wasserkanister oder Stoffballen auf ihren Köpfen an uns vorbei den Berg hinauf.

So idyllisch die Szenerie wirkt, so hart ist der Alltag der Menschen in Haiti. Die Region um Carrefour zählt zu den ärmeren des Landes. Der Großteil der Menschen hier lebt von weniger als zwei Dollar am Tag; fließendes, vor allem sauberes Wasser ist schwer zugänglich. Müll türmt sich in den Straßen der Stadt, seit 2010 kommt die Cholera immer wieder auf. Fremde verirren sich selten an diesen Ort, selten in das gebeutelte Land, das sich bis heute nur langsam von dem verheerenden Beben im Januar 2010 erholt.

„Warum ich in Haiti arbeite? „, Sophie überlegt einen kurzen Moment. „Während meines Studiums wurde mir klar: Ich werde nicht glücklich, wenn ich Häuser für wohlhabende Menschen in Frankreich baue. “ Ihr Schlüsselerlebnis hatte die 42-Jährige 1999 auf den Fidschi-Inseln. Während einer Studienreise entdeckte sie in einem Dorf kleine, traditionelle Hütten. „Sie haben bis zu diesem Zeitpunkt immer romantisch, immer positiv auf mich gewirkt „, erinnert sie sich. „Im Gespräch mit der Familie habe ich dann erfahren, dass sie nur noch auf diese Weise lebt, weil sie kein Geld für ein größeres, sicheres Haus hat. “ Sophie wollte das ändern. Mit 28 Jahren begann sie, als Architektin Häuser und Schulen für verschiedene Nichtregierungsorganisationen nach dem sogenannten Minimalstandard zu planen – sie lebte mehrere Jahre in Afghanistan, dann in Indien, Marokko, Mali und schließlich Haiti. Als sie als junge Frau zunächst nach Afghanistan aufbrach, machte sich ihre Familie große Sorgen. Ihre langjährige Beziehung ging in die Brüche, sie verlor den Kontakt zu Freunden. Sophie ließ sich nicht beirren: „In welchem Beruf hat man schon die Gelegenheit, so viele spannende, unterschiedliche Menschen und Kulturen kennen zu lernen – und doch jeden Abend nach Hause zurückzukehren? „"Misereor-Haus", Riviere Froide, Haiti; Foto: Florian Kopp / Misereor

Bereits wenige Monate nach dem Erdbeben 2010 reiste sie schließlich für Craterre, ein internationales Institut für Erdarchitektur, in Haiti ein – als viele Nothilfeprogramme von Nichtregierungsorganisationen bereits abgeschlossen waren, wollte Sophie weiter helfen.
Was die 42-Jährige dort innerhalb von drei Jahren, gemeinsam mit Kleinbauern und lokalen Handwerkern, gemeistert hat, kann sich sehen lassen. Fast 500 neue, erdbebensichere Wohnhäuser entstanden mit Unterstützung des Hilfswerks Misereor in der Gegend um den Rivière Froide. Die bunt gestrichenen Häuschen liegen hoch oben in den Bergen, an steilen und steinigen Hängen, teils auch inmitten des tropischen Waldes. Immer wieder müssen die Architektin und ihre Kollegen testen: Bietet der Hang genug Halt, ist die Erde hier zu trocken, dort zu lehmig? „Immer wieder haben wir die Bautechnik den Bedingungen der Umgebung angepasst „, erklärt Sophie – kein Haus dort oben gleicht dem anderen. Lehm, Sand, Wasser für den Putz, Holz und Nägel, alle Materialien sollen lokal verfügbar sein. Sophie wischt sich den Schweiß von der Stirn und krempelt ihr durchnässtes rechtes Hosenbein auf. „Man muss sich vorstellen: Hier hoch haben Esel, Männer, Frauen und Kinder das Material für die Häuser geschleppt „.Sophie Marongiu und Kleinbauer Altenor Ajenor besichtigen die Häuser_Florian Kopp

Wolle man wissen, wie sich der beschwerliche Alltag der Kleinbauern in den Bergen Haitis anfühle, wolle man ihre Probleme verstehen, sagt Sophie, dann müsse man eben auch ihre Wege gehen. In den nassen Schuhen spüren wir erste Blasen an den Füßen.

Nach rund drei Stunden Marsch durch das steinige Flussbett, durch kahl gerodete Täler und dicht bewaldete Flecken in den Bergen, entdeckt Sophie das gelb-rosafarbene Haus von Altenor Ajenor inmitten von Palmen und Sträuchern. Ein Jahr lang, seit Abschluss des Bauprojekts war sie nicht mehr bei dem 62-jährigen Kleinbauern zu Besuch. Sein Haus war eines der ersten dieser Gegend. Zum ersten Mal wirkt Sophie angespannt, leicht aufgeregt. Sie zupft an ihrem schwarzen Top, rückt die Wasserflasche an ihrem Gürtel zurecht. Haben sich die Familien um die Häuser gekümmert? Haben sie wieder Zement benutzt? Sophie streicht erleichtert mit der Hand über die Hausfassade, die zwischen den gekreuzten Holzbalken mit Lehm verputzt ist. „Die Haitianer davon zu überzeugen, ihre Häuser nicht mit Zement zu bearbeiten, war unglaublich mühselig „. Oft auch frustrierend, schiebt sie nach.Viele Häuser hielten dem Beben 2010 nicht stand – und begruben tausende Menschen unter Trümmern_Florian Kopp

Denn als 2010 in Haiti die Erde bebte, verloren besonders viele Menschen in Häusern ihr Leben, die mit Zement errichtet worden waren – wie Kartenhäuser krachten die starren Wände in sich zusammen, begruben die schweren Betondecken tausende Menschen unter sich. Experten wie Sophie raten den Menschen zu alternativen, erbebensicheren Bauweisen. Doch bis heute gilt der Baustoff in Haiti noch immer als Symbol für sozialen Aufstieg und Erfolg.

Tag und Nacht hat die Architektin in der Wiederaufbauphase mit den Familien, mit Bauern wie Altenor in den Bergen verbracht. Sie lebte und arbeitete hauptsächlich unter Männern, so schnell wie möglich versuchte sie damals die Landessprache, haitianisches Kreol, zu erlernen. „Das verschafft einem einfach mehr Respekt unter den Arbeitern „, sagt sie. Immer wieder verlängerte sie ihren Vertrag mit Craterre, „man sieht das Projekt wachsen, und dass etwas entsteht. Ich konnte nicht einfach gehen! „Keinen Strom, kein fließend Wasser Das Leben in den Bergen Haitis ist alles andere als einfach_Florian Kopp

2013 verlässt sie schließlich das Land – gemeinsam mit ihren haitianischen Ehemann zieht sie zurück in die Nähe ihrer Familie nach Frankreich. Er jobbte an einer Supermarktkasse, Sophie sprach ihn immer wieder an. „Ich habe einfach etliche Telefonkarten bei ihm gekauft „, sagt sie lachend. Doch schon bald wolle sie wieder zurück auf die Karibikinsel ziehen, sagt sie, fast entschuldigend. „Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, in meinem Alter noch einmal ein derartig anstrengendes Projekt zu machen. Ich will weiterhin mit den Haitianern zusammenarbeiten, will weiterhin mit ihnen zusammen leben. “ Sie strahlt und packt unsere Rucksäcke von dem Esel herunter.


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Hilfe für Haiti in Zahlen

  • Mehr als 850 neu errichtete oder reparierte Häuser in ländlichen Regionen
  • Mehr als 250 speziell in erdbeben- und wirbelsturmsicherer Erdbauweise ausgebildeten Handwerkerinnen und Handwerker
  • 29 agrarökologische Projekte zum Schutz und zur Wiederbelebung natürlicher Ressourcen, zur Anpflanzung von Wäldern und zur Verbesserung von Anbaumethoden und Erträgen
  • Weitere Schwerpunkte: Unterstützung von Schulen und Bildungseinrichtungen beim Wiederaufbau, bei der Qualifizierung von Lehrpersonal sowie Maßnahmen zur Stärkung der Zivilgesellschaft,  zur Erhöhung der Bürgerbeteiligung, Friedensbildung und Aufklärung über Menschenrechtsfragen
  • Insgesamt werden 165 Projekte in Höhe von 19,75 Millionen Euro gefördert (Stand: Ende 2014)

Republik Haiti

  • 27.750 Quadratkilometer (etwa die Größe Belgiens)
  • Etwa zehn Millionen Einwohner, mehr als die Hälfte sind unter 25 Jahre alt
  • Rund 80 Prozent Katholiken, 15 Prozent Protestanten, fünf Prozent gehören anderen Religionsgemeinschaften an
  • 80 Prozent der Haitianer leben von weniger als zwei US-Dollar am Tag, die Hälfte der Menschen sogar mit nicht einmal einem US-Dollar.

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Rebecca Struck hat als persönliche Referentin von MISEREOR-Chef Pirmin Spiegel gearbeitet.

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