Moralische Hochsitzpolitik – was für ein treffender Ausdruck. Alois Glück benutzt ihn schmunzelnd und doch auch spürbar genervt, wenn Menschen sich über Missstände lautstark mokieren, darüber aber untätig bleiben. Wenig Freude hat der Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) auch an bloßen Appellen ohne entsprechendes Ideen-Fundament, wie denn handhabbare Konsequenzen aussehen könnten.
Da ist der 2009 nach 38 Jahren aus dem bayerischen Landtag ausgeschiedene CSU-Veteran dann immer noch ganz Politiker. Konzepte müssen umsetzbar sein, es braucht nachvollziehbare Argumente, aber auch einen langen Atem und die Fähigkeit zum Kompromiss, wird er nicht müde zu betonen. Bei einem Besuch von MISEREOR stellte der 75-Jährige ehemalige Landtagspräsident und langjährige bayerische CSU-Fraktionsvorsitzende den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Hilfswerks seine Vorstellungen von der Zukunft der Kirche und damit auch des bischöflichen Hilfswerks vor, aber er weitete seinen Blick auch auf die Zukunft der gesamten Welt aus.
Epochale Veränderungen
„Die Kirche in Deutschland auf dem Weg zum Rand der Gesellschaft? – Konsequenzen für Misereor“, lautete das Thema seines Vortrags. Und Glück brauchte dabei starke Worte: Die Kirche befinde sich in einer „epochalen Veränderungsphase“, die in ihren Auswirkungen an die Zeit der Säkularisation erinnere. „Der Verlust von Stellung und Macht war für die Kirche des 19. Jahrhunderts eine Katastrophe. Und dennoch ist daraus etwas Neues entstanden.“ Seiner Ansicht nach wird die katholische Kirche in Größe und Bedeutung weiter schrumpfen und ihre Legitimationskrise nicht schnell überwinden können. „Da wird noch manches wegbrechen.“ Insbesondere der Missbrauchsskandal habe zu einem dramatischen Verlust an Vertrauen und Glaubwürdigkeit geführt. Die Wende zum Besseren sei nur auf einem langen Weg zu erreichen. „Hier sage ich: Unsere Kirche darf nicht länger in Machtkategorien denken, sondern sie muss zu einer hörenden und dienenden Kirche werden“. Nur so sei es möglich, die starke Entfremdung zwischen der Kirche und beträchtlichen Teilen der Bevölkerung zu überwinden.
Dass eine andere Kirche, die sich offener und diskussionsbereiter gebe, wieder auf mehr positive Resonanz stoßen wird, davon ist Glück überzeugt. Denn die Suche nach Lebenssinn und Orientierung sei weit verbreitet, und von der Kirche würden hierzu nach wie vor Antworten und Anstöße erwartet. Mit dem Pontifikat von Papst Franziskus verbindet der ZdK-Präsident die Erwartung, dass sein Wirken zu einer „großen Zäsur“ in der Kirche führe. Franziskus sei es zu verdanken, dass in der Kirche wieder eine „angstfreie Kommunikation und ein freier, offener Geist“ möglich geworden sei, dass Machtfragen in den Hintergrund und der Mensch um des Menschen willen in den Mittelpunkt kirchlichen Handelns und Denkens gerückt sei. Diese Entwicklung habe innerhalb der Kirche gleichwohl zu deutlichen Spannungen geführt, es werde mit harten Bandagen und unguten Begleiterscheinungen um den künftigen Kurs gekämpft.
Lehre entwickelt sich weiter
Es sei ein gewaltiger Fortschritt, dass der Papst solche Diskussionen überhaupt zulasse und man dem Kirchenoberhaupt ohne weiteres widersprechen könne. Inwieweit sich die Kirche dadurch verändern werde, sei schwer vorherzusehen, sagte Glück. Aber klar sei auch: „Lehre ist etwas, was sich weiterentwickelt.“ Für den ZdK-Präsidenten ist dabei von großer Bedeutung, dass die Kirche offen bleibe auch für Impulse von außen. „Veränderungen gehen oft von Minderheiten aus, das Neue kommt nicht selten von Außenseitern.“ Und da der Mensch sich ungern verändere, zum Verdrängen neige, bedürfe es großer Geduld und eines gewissen Leidensdrucks, bis die Zeit reif für Wandel sei.
Defizit an Zukunftsorientierung
Wandeln müsse sich freilich nicht nur die Kirche, sondern die gesamte Gesellschaft, nicht zuletzt in Deutschland. Auch hier werde vielfach verdrängt, dass wir uns in einer zunehmend unruhiger gewordenen Welt viel stärker als bisher den verschiedenen globalen Krisen stellen müssten – „die Flüchtlingsfrage ist für diese Entwicklung sichtbarer Ausdruck“. Auch die Folgen der rasend schnell verlaufenen Digitalisierung der Gesellschaft und des demographischen Wandels seien jahrelang unterschätzt worden. „Ich stelle ein massives Defizit an Zukunftsorientierung und der Bereitschaft fest, wirklich Verantwortung zu übernehmen“, schreibt Glück Politik und Bevölkerung gleichermaßen ins Stammbuch. „Unsere Art zu leben ist sehr augenblicksbezogen.“ Das nach wie vor herrschende Wohlstandsmodell mit Wachstum auf Kosten anderer, massiven ökologischen Schäden bei gleichzeitiger durch Stress und wachsende psychische Belastungen entstehender Überforderung des Menschen solle uns Mahnung sein, intensiver an neuen Leitbildern für eine zukunftsfähige und nachhaltige Gesellschaft zu arbeiten, erklärte Glück. Die Modelle hierfür lägen zu einem nicht unerheblichen Teil bereits auf dem Tisch und müssten endlich mit „starker Motivation“ umgesetzt werden. Und dabei könnten die Kirchen wieder zum starken Impulsgeber werden – und es mit gut vermittelten Argumenten sogar schaffen, dass sich ihr Fernstehende wieder stärker mit ihr identifizierten.