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Mit langem Atem werden wir Boko Haram überwinden

Boko Haram, die neue Regierung in Nigeria, die Korruption – die hoch brisanten Probleme standen im Mittelpunkt, als sich der Erzbischof von Jos, Ignatius Ayau Kaigama, zum Austausch mit Bundestagsabgeordneten im Katholischen Büro in Berlin traf.  Zusammen mit dem Emir von Kanam war er von der kathlischen Bischofskonferenz nach Deutschland eingeladen worden. Die beiden Religionsführer aus dem Nordosten Nigerias spachen auch über den interreligiösen Dialog – bei der BMZ-Veranstaltungsreihe „Religion Matters“. Seit vielen Jahren kooperieren sie, um Konflikte in der Region zu lösen. Die Diözese Jos von Erzbischof Kaigama, der auch Vorsitzender der katholisch nigerianischen Bischofskonferenz ist, wird seit vielen Jahren von MISEREOR als Partner unterstützt.Wie erleben Sie die Bedrohung durch Boko Haram?Erzbischof von Jos-Ignatius Ayau Kaigama

Ignatius Ayau Kaigama: Die Bedrohung durch Boko Haram ist in den letzten Jahren sehr verstörend für jeden Nigerianer. Boko Haram heißt ja „Keine westliche Erziehung“ – denn die ist aus Sicht der Terroristen teuflisch. Es begann mit Angriffen auf die Regierung – auf Polizei, Armee, später auf die Vereinten Nationen mit ihrem Büro in Abuja und auf Banken. Dann wurden Christen Zielscheibe und die Terroristen haben ihre Autos während des Weihnachtsgottesdienstes in Kirchen gefahren und viele Menschen umgebracht. Sie töten auch Muslime, viele Führungspersönlichkeiten, die sich gegen ihre Denkprinzipien aussprechen. Mittlerweile hat Boko Haram Netzwerke zur ISIS geknüpft und eine Region besetzt, die sie wie ein Kalifat regiert. Alle, die nicht zu ihnen gehören, können ihre Opfer werden. Sie verfolgen keinerlei rationale Ziele, weil sie einfach nur zerstören.

Hat sich unter der neuen Regierung die Situation der Menschen in dem betroffenen Gebiet verändert?

Ignatius Ayau Kaigama: Der Nordosten ist am meisten betroffen beispielsweise in Maiduguri, wo die Zentrale von Boko Haram sitzt, und in Mubi. Von dort sind Tausende vertrieben, haben kein zu Hause und kein Land mehr Glücklicherweise ist der neue Präsident Muhammadu Buhari fest entschlossen, eine gewisse Normalität wieder herzustellen. Die Regierung hat die oberste Zentrale der Armee in den Bundestaat Borno verlegt, ihr Chef lebt dort und die Armee soll dadurch gestärkt werden. Einige Gebiete sind zurückerobert. Viele Vertriebene gehen nach Hause, aber sie besitzen nichts mehr und sind verängstigt. Häuser, Kirchen, Felder – alles ist zerstört.

Wir hoffen, dass die Regierung die Rückkehrer, den Wiederaufbau und die Aussöhnung in den Dorfgemeinschaften unterstützt. Der neue Präsident hat schon viel erreicht und internationale Anerkennung gewonnen. Einige Staaten haben ihre Hilfe angeboten. Präsident Muhammadu Buhari möchte Boko Haram wirklich zerstören. So einen politischen Willen gab es in den letzten Legislaturperioden nicht mehr. Jeden Tag hört und liest man in den Nachrichten, dass Frauen und Kindern befreit werden.

Wer unterstützt Boko Haram?

Ignatius Ayau Kaigama: Das ist ein Geheimnis, ein Mysterium. Wir wissen natürlich, dass es innerhalb und außerhalb Nigerias Unterstützer und Geldgeber gibt. Man geht davon aus, dass Boko Haram auch von Regierungsmitgliedern protegiert wird. Der letzte Präsident Goodluck Jonathan hat auf einer Feierlichkeit selbst zugegeben, dass er die Unterstützer und Finanzier der Terrorgruppe kennt, aber er hat einfach nichts getan, gar nichts! Manchmal räumte er sogar ein zu wissen, wo die entführten Mädchen sind, ist aber nicht aktiv geworden. Irgendetwas stimmte also nicht.

Wir sind davon überzeugt, dass Buhari sehr gründlich untersuchen wird, wo Korruption innerhalb des Apparates stattfindet. Sogar der nationale Sicherheitsberater, der für den Haushalt auch der Armee zuständig ist, wird überprüft. Grund: Es sind Millionen ausgegeben worden, um mit guten Waffen gegen Boko Haram kämpfen zu können, aber die Soldaten haben sie nie bekommen. Dann haben wir noch Nachbarstaaten wie Libyen, von wo aus bewaffnete Leute nach Nigeria kommen. Um herauszufinden, wer die Terroristen unterstützt, wer unter ihnen aktiv ist, wie sie kommunizieren, ihre Gelder verschieben, sich vernetzen, für all das brauchen wir unbedingt gut qualifizierte Geheimdienste. Wir benötigen nicht nur Geld, sondern Ausbildung und Waffen. So können wir mit einem langen Atem Boko Haram überwinden. Das geht aber nur, wenn wir selbst nicht mehr korrupt, sondern ehrlich sind und diesen Krieg gewinnen wollen.

Aus welchen Gründen gehen Nigerianer nach Europa?

Ignatius Ayau Kaigama: Wenn die Lebensbedingungen so schlecht sind und sie „grüne Weiden“ suchen. Sie glauben, dass sie in Europa alles leicht erreichen können und wissen nicht, dass sie dort viel zu leiden haben und auf dem Weg leicht in der Wüste und auf dem Meer sterben können. Viele unserer Mädchen fühlen sich beispielsweise sehr angezogen und geraten leicht in die Fittiche von Organisationen, die in Nigeria und auch hier in Deutschland sitzen. Es werden gute Jobs versprochen, Pässe und Dokumente organisiert, alles ganz geheim. Dann verschwinden die jungen Leute und am Ende landen sie in der Prostitution, in Italien oder woanders. Ihre Ausweispapiere sind eingezogen und sie müssen sehr viel Geld bezahlen, um wieder frei zu sein und zurückzukommen.

Werden sich die intern Vertriebenen auch auf den Weg machen?

Ignatius Ayau Kaigama: Nein, das sind ganz einfache Dorfbewohner, sie können nicht einmal nach Abuja fliehen, sondern höchstens in die Grenzregion mit Niger oder Kamerun gelangen. Alleine einen Pass zu bekommen, ist viel zu schwierig für sie. Nach Europa gehen die Leute aus dem östlichen und westlichen Teil Nigerias, aber nicht wegen Boko Haram. Ausreisende haben verschiedene Gründe. Manche sagen, sie würden beispielsweise wegen ihrer Homosexualität von den Radikalen verfolgt und seien diskriminiert, doch häufig stimmt das gar nicht. Aber es gibt Leute, die wirklich Probleme haben und es gibt diejenigen, die nach Kamerun und Niger gehen und dann der Versuchung nicht widerstehen, nach Europa weiterzuziehen.

Wie geht die Kirche mit dem Thema Migration um?

Ignatius Ayau Kaigama: Die Kirche ist sehr engagiert. Ich nenne Ihnen mal ein Beispiel. Eine kirchliche Frauenorganisation hilft zurückgekehrten Mädchen, die sich prostituieren mussten, bei der Wiedereingliederung. Sie klären in Fernseh- und Radioprogrammen über die harten Lebensbedingungen in Europa auf. Sogar die jungen Mädchen äußern sich als Zeitzeugen. Auch das nationale Fernsehen versucht zu entmutigen, die illegale Route Richtung Europa zu nehmen.

Auch in unseren Diözesen arbeiten wir viel mit den jungen Leuten. Wenn wir beispielsweise über eine Drogenproblematik in einem Ort erfahren, dann versuchen wir Lösungen anzubieten. Es gibt Diözesen, die haben sich auf das Thema Prostitution konzentriert und führen gezielt Programme durch. Aber Nigeria ist so groß. Die Probleme im Norden des Landes sind andere als die im Westen oder Süden. Wir müssen herausfinden, was in den jungen Leute vorgeht und darauf reagieren.

Wir können aber auch nicht von morgens bis abends über Migration sprechen, das bringt nichts. Aber es ist ein Thema, das wir Bischöfe in unserer letzten Resolution aufgegriffen haben. Wir sind uns bewusst, dass unsere Jugend regelrecht entflieht. Wir fordern die Regierung auf, das zu verhindern. Wenn die Ressourcen Nigerias gut genutzt würden, müsste kein junger Mensch von hier weggehen. Wir haben talentierte Leute. Aber mittlerweile arbeiten 4000 medizinische Experten – hoch qualifizierte nigerianische Leute – in den USA, in Saudi-Arabien oder in Südafrika. Warum ist das so? Weil diese Menschen nicht mehr so leben wollen – ohne Licht, ohne Wasser, ohne Transportmittel. Wenn unsere Regierung etwas verändern würde, dann hätten wir ein ganz anderes Arsenal an Arbeitskräften. Dann will auch niemand mehr gehen, weil man eine Arbeit hat, ein Haus, ein Auto, vielleicht ein florierendes Geschäft.

Nigeria ist ja reich an Ressourcen – warum kommt nichts bei der Mehrheit an?

Ignatius Ayau Kaigama: Die reichen und korrupten Leute raffen alles an sich und investieren es woanders. Wir lassen Rohöl in Europa verarbeiten, aber das Geld kommt nicht zurück, es bleibt im Bankensektor hängen bei großen Liegenschaften in London oder woanders auf der Welt. Auf unseren letzten Sitzung zusammen mit dem Vizepräsidenten sprach ich darüber, dass wir die Korruption ausrotten müssen sonst rottet sie uns aus. Wir verfolgen das weiter.

Ich sehe dem Tag entgegen, an dem korrupte nigerianische Präsidentenbestraft werden. Bisher spielt die Religions- Stammes oder Parteienzugehörigkeit eine große Rolle, wenn jemand in Nigeria verhaftet wurde. Doch es gibt bereits Anzeichen dafür, dass Präsident Buhari die Sache ernsthaft angeht. Erstmals steht ein Ex-Präsident vor den internationalen Strafgerichtshof. Wir religiöse Führer sind über diese Entwicklung sehr froh, weil es dann mehr Fortschritt gibt, mehr Harmonie, mehr Einigkeit, weniger Gewalt. Insofern ist Hoffnung.

Was ist aus Ihrer Initiative „interreligiöser Dialog“ geworden?

Ignatius Ayau Kaigama: Als ich 2001 mit dem Emir von Kanam, Muhammad Mu’azu Muhammad II. zu arbeiten begann, gab es ernsthafte Konflikte in unserer Region, die mehrheitlich von Katholiken bewohnt ist: viele Kämpfe und sogar tödliche Auseinandersetzungen. Ich begann mich mit den wichtigsten traditionellen Führern zu treffen. Viele Leute waren wegen der Gewalttaten aus der Region geflohen. Schließlich brachten wir alle am Konflikt Beteiligten in einer Schule zusammen und ermöglichten Gespräche zwischen jeweils einem Christen und einem Muslim. Die Reaktion darauf war überwältigend, am Ende weinten viele. Danach verteilten wir Lebensmittel und Decken einer katholischen Hilfsorganisation. Das war der Start meiner Zusammenarbeit mit dem Emir. Wenn es Probleme gibt, Konflikte über Landfragen oder über Marktzugänge, dann treffen wir uns und schauen, wie wir einschreiten und sie lösen können. Das ist umso wichtiger, weil aktuell alles durcheinander gerät. Es wird nicht mehr genau unterschieden zwischen moderaten und radikalen Strömungen, die es aber in jeder Religion gibt, bei den Christen genauso wie bei den Muslimen. Diese Differenzierung müssen wir in jedem Fall aufrechterhalten. Auch dafür ist der interreligiöse Dialog so wichtig.

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Eva Wagner arbeitete bis 2016 im Berliner Büro von MISEREOR.

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