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„Meine Geburt ist mein tödlicher Unfall“ – Der Suizid des jungen Dalit Rohith Vemula

Der Suizid eines indischen Dalit vor 10 Tagen wirft viele Fragen auf in dem Land, das sich gern mit dem Label der „größten Demokratie der Welt“ schmückt. Doch Kastendenken, Diskriminierung und systematische Ausgrenzung sind insbesondere für Dalits nach wie vor Alltag und scheinen im Vorfeld des Selbstmordes des jungen Doktoranden eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Die Ereignisse an der Hyderabad Central University zogen empörte Proteste von Dalit Rights Groups, Menschenrechtsaktivisten, Studierenden und Intellektuellen nach sich – landesweit und international.teaser_kerze

Am Abend des 17. Januar fand man seine Leiche. Rohith Vemula hatte sich in einem Zimmer des Studentenwohnheims auf dem Uni-Campus an einem Deckenventilator erhängt. Rohith war ein 26-jähriger Doktorand an der Hyderabad Central University im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh. Man fand Rohith mit der Fahne der Ambedkar Students‘ Association (ASA) um den Hals. Er hatte sich mit dem Banner der Organisation das Leben genommen, deren Wortführer er selbst war und die sich für die Rechte von Dalits – nicht nur in den Hochschuleinrichtungen – einsetzt. Die Fahne trug das Konterfei von Bhimrao R. Ambedkar, dem Vorkämpfer für die Rechte von Dalits. Rohith war selbst Dalit und hatte sich ebenfalls stark in Dalit- und Menschenrechtsfragen engagiert. Der Selbstmord des jungen Wissenschaftlers hat in Indien zu empörten Protesten von Dalit Rights Groups, Menschenrechtsaktivisten, Studierenden und Intellektuellen geführt. In vielen Medien wird der tragische Suizid als „Wendepunkt“ beschrieben, der zu einer stärkeren Politisierung großer Teile der Dalits beitragen und dem Anliegen einer tatsächlichen gesellschaftlichen Gleichberechtigung großen Nachdruck verleihen könnte. Ob dies eine bloße Hoffnung bleiben wird oder ob der Suizid von Rohith Vemula tatsächlich der historische Tipping Point ist, wird sich noch herausstellen müssen.

Sechzig Jahre nach dem Tod Ambedkars scheint die indische Gesellschaft noch immer geradezu besessen und durchdrungen von Kastendenken und Diskriminierung auf Basis der Kastenzuschreibung. Erschreckende Zahlen des staatlichen National Crime Records Bureau zeigen, dass neben dem institutionalisierten Rassismus auch die offene, kastenbasierte Gewalt zugenommen hat: Im Jahr 2014 stieg die Anzahl der Gewaltdelikte gegen Dalits um 19 Prozent an. Auch vor Mord schreckten die Gewalttäter nicht zurück: Im selben Jahr wurden 744 Dalits umgebracht. Doch die „Kastenlosen“, die früher als „Unberührbare“ beschimpft wurden und oft von Kindesbeinen an sozialer, kultureller und ökonomischer Diskriminierung ausgesetzt sind, verschaffen sich zunehmend und lautstark Gehör. Dies trifft auf massiven Widerstand von höherkastigen Hindus, die scheinbar mit allen Mitteln ihren „rechtmäßigen“ Platz in der Gesellschaft und damit ihre Hegemonie zu verteidigen suchen. Ein Kristallisationspunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung sind die akademischen Institutionen des Landes, in denen das Lehrpersonal, die Leitungen und das Verwaltungspersonal der höheren Ebenen überwiegend aus upper caste Hindus besteht, die zunehmend ihre Machtpositionen gefährdet sehen.

Rohith Vemula hinterließ einen Abschiedsbrief, in dem er diesen Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung und das Gefühl der Ausgrenzung, das ihn ein Leben lang begleitete, in wenigen Zeilen verdichtet: „Meine Geburt ist mein tödlicher Unfall. Ich werde mich nie von der Einsamkeit meiner Kindheit erholen können. Vom nicht gewürdigten Kind meiner Vergangenheit.“ Die traumatisierenden Erfahrungen Rohiths und der bestürzende Selbstmord als äußerste Form des gesellschaftlichen Protestes sind jedoch kein Einzelfall. An den Elite-Bildungseinrichtungen gab es in den vergangenen 10 Jahren in ganz Indien 23 Selbstmorde von Dalits. Die Hyderabad Central University hält einen traurigen Rekord, denn allein hier nahmen sich in dieser Zeitspanne neun Studierende das Leben. Acht von ihnen waren Dalits.

Doch wie kam es, dass der scharfsinnige Denker und politische Aktivist Rohith Vemula bis zum Äußersten ging – oder getrieben wurde, wie viele Ereignisse im Vorfeld seines Selbstmordes vermuten lassen? Ende Juli 2015 hatten einige Aktivisten der ASA, darunter auch Rohith, einen Protest gegen die Todesstrafe organisiert. Aufhänger war das Todesurteil gegen Yakub Memon, der für eine Beteiligung an den Bombenanschlägen von Mumbai im Jahr 1993 schuldig gesprochen wurde. Den Protest der Ambedkar Students‘ Association nahmen hindu-nationalistische Studierende zum Anlass, sie bei der Uni-Leitung anzuschwärzen und als Sympathisanten von Terroristen bzw. Landesverräter zu verunglimpfen. Jedoch richtete sich der Protest von Rohith und seinen Weggefährten gegen die Institution der Todesstrafe an sich und gegen die gesellschaftlich kontraproduktiven Folgen der Memon-Verurteilung. Auf Plakaten hieß es sinngemäß: „Wenn Ihr einen Memon tötet, wird aus jedem Haus ein neuer Memon nachrücken.“

Neben den Beleidigungen durch Kommilitonen wurden auch institutionelle Sanktionen gegen Rohith verhängt: Die monatlichen Unterhaltszahlungen, die er im Rahmen eines Forschungsstipendiums erhielt, wurden eingestellt. Rohith hatte aufgrund seiner überdurchschnittlichen Leistungen jeden Monat 28.000 Rupien (etwa 380 Euro) als Stipendium erhalten. Dass die Zahlungen dann vor sieben Monaten plötzlich ausblieben, begründet die Uni-Verwaltung mit „Bürokratie“. Das Einstellen der Zahlungen sei ein Versehen gewesen und habe nichts mit dem politischen Engagement Rohiths zu tun. Doch Freunde und Sympathisanten sind sich sicher, dass hier institutionelle Diskriminierung und Schikane am Werk waren und den Freigeist einschüchtern sollten.

Nach einigem juristischen Hickhack wurden schließlich fünf ASA-Aktivisten, darunter auch Rohith, Anfang Januar aus ihrem Wohnheim geworfen – aus Gründen der Indisziplin, wie es offiziell hieß. So musste Rohith die letzten zwei Wochen seines Lebens in einem Zelt am Rande des Campus übernachten. Dem Doktoranden war es verboten, die Wohnheime, die Mensa oder Verwaltungsgebäude zu betreten. Auch an Uniwahlen durfte er nicht mehr teilnehmen. Selbst höchste Regierungskreise sollen auf eine „Entscheidung“ der Uni-Verwaltung, insbesondere des Vizekanzlers, gedrängt haben, um die als „anti-nationale Umtriebe“ verunglimpften Aktionen an der Uni zu beenden. Für viele Beobachter kein Novum, denn indische Hochschuleinrichtungen sind überwiegend elitär und „biased“ in Bezug auf Klasse, Kaste sowie Gender: Die wichtigen Positionen werden nach wie vor von höherkastigen Männern und Brahmanen-Hindus besetzt. Eine Umgebung, die sich feindselig zeigt gegenüber Marginalisierten wie Dalits, Adivasis, Frauen sowie gegenüber religiösen und sexuellen Minderheiten. In einem Protestbrief nach dem Selbstmord von Rohith verurteilten mehr als 130 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt die nach wie vor allgegenwärtige Diskriminierung aufgrund einer zugeschriebenen Kastenzugehörigkeit. Sie zeigten sich empört, dass ausgerechnet die Bildungseinrichtungen darin versagten, die intellektuellen und demokratischen (Frei-)Räume zu verteidigen bzw. sie zu erweitern.

Rohith schien aufgrund der tiefsitzenden Feindseligkeit und des regelrechten Feldzuges gegen das politische Engagement der Ambedkar Students‘ Association zunehmend zu resignieren. Einen Monat vor seinem Selbstmord hatte er den Vizekanzler in einem Brief voller Verbitterung dazu aufgefordert, er möge doch an alle Dalit-Studierenden bei Antritt ihres Studiums „10 Milligramm Natriumazid verteilen“ – und einen „schönen Strang für alle Zimmer des Wohnheims, in die Dalit-Studierende einziehen.“ Diesen tragisch-zynischen Weckruf hatte die Uni-Administration wissentlich ignoriert. Nach Rohith Vemulas Selbstmord wird vermutlich nichts mehr so sein wie es einmal war – nicht nur an der Universität von Hyderabad. Mit dem Selbstmord von Rohith Vemula ist für viele Dalits auch das Versprechen „Freiheit durch Bildung“ gestorben. Immer lauter werden nun die Stimmen in Zivilgesellschaft und Politik, die die Mitverantwortlichen zur Rechenschaft ziehen wollen und Gerechtigkeit für Rohith einfordern. Es besteht die Hoffnung, dass dies einer sozialen Bewegung Vorschub leistet, die die Klassen- und Kastengrenzen überschreitet und somit zur Befreiung und Selbstermächtigung von Dalits und Marginalisierten in Indien beiträgt.

Über den Autor: Thomas Stauber* beschäftigt sich u.a. mit dem Thema Kastendiskriminierung in Indien und stellte uns diesen Artikel unter Pseudonym zur Veröffentlichung zur Verfügung.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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