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In Mexiko gibt es eine ausgewachsene Krise der Menschenrechte

Der Besuch von Papst Franziskus in Mexiko seit Samstag früh hiesiger Zeit stimmt die mexikanische Zivilgesellschaft, Kirchenvertreter und Menschenrechtsaktivisten hoffnungsvoll. Sie erwarten sich eine scharfe Kritik an der Regierung, denn die Menschenrechtssituation im Land entartet zu einer ausgewachsenen Krise. Dieser Auffassung ist Catharina Köhler, die Mexiko-Referentin von MISEREOR. Sie steht in engem Kontakt mit den MISEREOR-Partnerorganisationen, die die Opfer von Menschenrechtsverletzungen unterstützen, und gibt eine aktuelle Einschätzung der Situation vor Ort.

Der Papst ist in Mexiko eingetroffen. Welche Situation wird er in puncto Menschenrechten dort vorfinden?

Catharina Köhler: Die Situation vor Ort ist unvorstellbar: es gibt sehr viele Verletzungen der bürgerlichen, politischen, aber auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Die mexikanische Regierung hat Ende September des letzten Jahres erklärt, dass im Zeitraum von 2006 bis August 2015 etwa 26.000 Mexikaner verschwunden sind und dass über 150.000 Menschen ermordet wurden. Außerdem kursieren immer wieder Zahlen durch die Medien, dass fast etwa 70.000 Migranten aus Zentralamerika auf ihrer Durchreise durch das Land verschwunden sind. Folter, Hinrichtungen und willkürliche Verhaftungen stehen scheinbar auf der Tagesordnung. Unsere Partnerorganisationen vor Ort sprechen von einer ausgewachsenen Krise der Menschenrechte.

Wird das offiziell bestätigt?

Catharina Köhler: Die UN-Sonderberichterstatter für extralegale Hinrichtungen und Folter haben das in den letzten beiden Jahren festgestellt und ebenso der UN-Ausschuss, der im März 2015 über das Thema „Verschwindenlassen“ beraten hat. Auch der UN-Hochkommissar der Menschenrechtskommission war letztes Jahr in Mexiko. Er wies auf die eklatant hohe Zahl der Menschenrechtsverletzungen hin, von denen 98% ungeahndet blieben. Vor allem der Staat ist hier gefragt, damit sich diese schlimme Situation verbessert. Schwierig daran ist jedoch, dass staatliche Autoritäten zumindest eine Mitschuld an der eklatanten Menschenrechtssituation tragen.

Inwieweit sind Migranten besonders betroffen von Menschenrechtsverletzungen?

Catharina Köhler: Mexiko ist ein Transitland, durch das jährlich etwa 250.000 Menschen reisen auf der Flucht vor Gewalt und Kriminalität. Im Schnitt werden 20.000 Migranten jedes Jahr auf solchen Reise entführt, werden Opfer von Menschenhandel, Erpressungen oder verschwinden. Diese Gruppe  ist sehr verletzlich und den Straftaten ungeschützt ausgesetzt. Polizei und Militär kümmern sich meistens nicht darum, sondern lassen sich bestechen und erhalten für ihr Stillschweigen sogar hohe Bezahlungen. Mitunter sind sie zum Teil an den Entführungen beteiligt. Leider sind diese Erkenntnisse unserer Partner schwer zu beweisen. Auch die sind gefährdet. Die Verteidiger von Menschenrechten, die sich z.B. für Migranten oder indigene Menschen einsetzen oder die Fälle von „Verschwindenlassen“ öffentlich machen, sind besonders bedroht. Allein 2015 gab es 76 Übergriffe auf sie, und etwa Tausende von ihnen wurden willkürlich verhaftet.

Wer ist verantwortlich für die Zuspitzung der Situation?

Catharina Köhler: Seit 2006 hat sich die Situation im Land radikalisiert – eine Folge des Kampfes gegen die Drogenkartelle. Die Auseinandersetzungen zwischen organisierter Kriminalität, den Rechtsvertretern und staatlichen Autoritäten haben sich intensiviert. Die Befriedung des Landes durch ausgedehnte Militär-, Marine und Polizeieinsätze ist völlig fehlgeschlagen. Eine große Rolle spielt dabei, dass die lokale Polizei und das Militär mit der organisierten Kriminalität vor Ort „gemeinsame Sache machen“. Staatliche Institutionen unterstützen Gewalt und Verbrechen statt sie zu unterbinden. Man kann davon ausgehen, dass dieses „gemeinsame Sache machen“ nicht nur auf lokaler, sondern auch auf nationaler Ebene passiert. Es fehlt der politische Wille zur Veränderung. Dieser Vorwurf richtet sich auch an die jetzige Regierung, die immer noch versucht, Mexiko ein positives Image als Rechtsstaat zu verleihen und alle wichtigen internationalen Abkommen zur Stärkung der Menschenrechte unterzeichnet hat. Aber wie im Fall der 43 verschwundenen Studenten deutlich wurde, funktioniert der mexikanische Rechtsstaat nicht annähernd so wie er müsste.

Für was soll sich der Papst während seines Besuches in Mexiko einsetzen?

Catharina Köhler: Wir und unsere Partnerorganisationen hoffen, dass sich der Papst kritisch zur Menschenrechtssituation äußert. Er sollte die Regierung auffordern, internationale Verträge und Abkommen, die Mexiko unterschrieben hat, ebenso umzusetzen wie die eigene durchaus menschenrechtsfreundliche Gesetzgebung. Der existierenden Straflosigkeit muss nachweislich entgegengewirkt werden. Ein anderes wichtiges Thema ist, dass die mexikanische Regierung Einschätzungen von UN-Vertretern, von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und des argentinischen Forensikerteams anerkennt. Die Expertenmeinungen spielen insbesondere im Falle der 43 verschwundenen Studenten eine große Rolle. Franziskus sollte ansprechen, dass die Zivilgesellschaft und die Opferbewegungen eingebunden werden, wenn die Gesetze gegen das „Verschwinden lassen“ und gegen Folter erarbeitet werden. Und der Papst sollte einfordern, dass die Regierung die von ihr unterzeichnete Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation ILO ernst nimmt. Dabei geht es um die Konsultationsrechte von Indigenen bevor Linzenzen und Landtitel vergeben werden.

Inwieweit ist das Thema Menschenrechte im Fokus der Arbeit von MISEREOR?

Catharina Köhler: Mehr als ein Drittel der Organisationen, die wir unterstützen, sind Menschenrechtsorganisationen. Einige haben national wie international große Anerkennung gewonnen. Beispiele hierfür sind das „Centro ProDH“ aus Mexiko Stadt, das landesweit arbeitet. Im Bundesstaat Guerrero unterstützen wir die Organisationen „Tlachinollan“ und das „Centro de Derechos Humanos Morelos y Pavón“ , die mit den Familien der 43 verschwundenen Studenten aus Ayotzinapa zusammenarbeiten. Sie haben es geschafft, diese Fälle von „Verschwindenlassens“ auf die nationale und internationale Agenda zu bringen.

Für die Rechte von Migranten setzen sich vor allen Dingen Vertreter der Kirche ein, wie z.B. die Scalarbriana-Schwester Leticia Gutierrez und die von ihr begründete „Misión para Migrantes y Refugiados“ in Mexiko Stadt, die wir unterstützen. Sie hat informelle Kontakte zur Generalstaatsanwaltschaft und zur Migrationsbehörde aufgebaut und  kooperiert also innerhalb der korrupten Strukturen mit denjenigen, die gleichfalls die Situation der Migranten verbessern wollen. Die Schwester ist sehr anerkannt, wird aber auch bedroht. Wir unterstützen außerdem eine Migrantenherberge der Diozöse in San Cristobal de la Casas, die juristische und psychosoziale Beratung für die zentralamerikanischen Migranten anbietet.

Werden denn auch die Indigenen in ihren Rechten beschnitten?

Catharina Köhler: Wir erwarten, dass Konflikte um Landrechte weiter zunehmen, weil Mexiko in seinem Entwicklungsmodell stark darauf setzt, Energieprojekte zu fördern. Darum wurde 2014 eine umfangreiche Energiereform verabschiedet mit verschiedenen Sekundargesetzen zu Bergbau, zu Förderung von Erdgas und Erdöl, durch die jahrzehntelang gesicherte indigene kollektive Landrechte nun in Frage gestellt werden könnten. So müssen mittlerweile Indigene weichen, wenn Projekte im Bergbau, in der Wasserkraft oder Konzessionen zur Förderung von Erdöl und Erdgas umgesetzt werden. Seit der Gesetzesreform ist es legal, auch kollektiven Landbesitz zu enteignen. Das wiederum steht der Konvention ILO 169 entgegen, die seit 2011 in Mexiko in die Verfassung aufgenommen wurde.

Was erhoffen sich die MISEREOR-Partner vom Papstbesuches?

Catharina Köhler: Einige unserer Partner beziehen sich sehr auf Franziskus und auf seine Enzyklika. Sie wird als starke Unterstützung wahrgenommen, um eine gerechte, soziale, ökologische und nachhaltige Entwicklung zu stärken und die Situation der Menschen zu verbessern. Darum knüpfen sie Hoffnungen an den Besuch und wollen dem Papst ihre Probleme präsentieren. Sie kommen zur Messe in Juárez und suchen beim Besuch des Papstes in Chiapas das Gespräch mit ihm.

 

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Eva Wagner arbeitete bis 2016 im Berliner Büro von MISEREOR.

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