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Ein zum Himmel schreiendes Unrecht an indischen Frauen

Heute am Internationalen Frauentag berichtet die Indienreferentin Brigitte Mandelartz vom Leid Tausender indischer Mädchen und Frauen, die tagtäglich Opfer sexueller Gewalt werden. 200.000 werden nach Expertenschätzungen jährlich unter falschen Versprechungen von Menschenhändlern „gekauft“. Insgesamt mehr als 2,3 Millionen Frauen und Mädchen arbeiten in der Sexindustrie – viele unter Zwang und ohne Alternativen. Brigitte Mandelartz erklärt Hintergründe dieser frauenfeindlichen Situation und schildert hautnah die Arbeit engagierter Menschenrechtsaktivistinnen. Sie hat  Hoffnung und erlebt immer wieder, wie selbstbewusst indische Frauen für ihre Rechte eintreten.

Wieder öffentlich Glauben: Nach der Gewalt gegen Christen im Jahr 2007 können sich diese im Distrikt Khandamal, Orissa, wieder öffentlich zu ihrem Glauben bekennen.

Wieder öffentlich Glauben: Nach der Gewalt gegen Christen im Jahr 2007 können sich diese im Distrikt Khandamal, Orissa, wieder öffentlich zu ihrem Glauben bekennen. © Daniela Singhal/MISEREOR

Wie muss man sich den „Menschenhandel“ in Indien vorstellen?

Brigitte Mandelartz: In ländlichen Gebieten gehen Anwerber durch die Dörfer, die gezielt Eltern junger Töchter ansprechen. Sie bieten an, die Mädchen in die nächste größere Stadt mit zu nehmen. Sie versprechen entweder eine gute Arbeit als Hausangestellte oder im handwerklichen Bereich wie dem Teppichknüpfergewerbe oder der Textilindustrie oder sie stellen eine Schulausbildung in Aussicht. Gerade bei Familien mit mehreren Töchtern ist die „Mitgift“ ein großes Problem, weil sie Familien in den finanziellen Ruin treiben kann. Die Eltern sollen glauben, dass die Töchter gutes Geld nach Hause schicken werden. Sie wissen es oft nicht besser oder wollen es nicht wissen, jedenfalls fragen sie nicht nach. Die Bereitschaft der Eltern ist recht groß, den Menschenhändlern ihre Kinder mitzugeben, auch weil sie einen direkten finanziellen Obolus als Anreiz bekommen.

In Wirklichkeit werden die Kinder verschleppt und landen in Zwangsarbeit, z. B. in Teppichfabriken und Steinbrüchen oder in der Prostitution. 40% der Frauen und Kinder werden für 26-200 Euro an Menschenhändler „verkauft“ – die Zuhälter bezahlen den doppelten Preis. Ein regelmäßiges Einkommen  wird in den meisten Fällen nicht gezahlt. Übrigens arbeiten auch Frauen als Anwerberinnen oder als Bordellmütter. Das waren in der Regel selbst Prostituierte..

Was kann dagegen getan werden?

Brigitte Mandelartz: Unsere Partnerorganisation Prajwala versucht gezielt an die Kunden von Sexarbeiterinnen wie Rikscha- oder LKW-Fahrer heranzukommen und sie über die Folgen von Zwangsprostitution aufzuklären. Gleichzeitig geht unsere Partnerorganisation mit Programmen an Unis und Schulen, um das Bewusstsein für das Problem zu schärfen und klarzumachen, dass ein „Nein“ einer Frau auch ein „Nein“ heißt.

Es gibt auch Aufklärungsprogramme in den Regionen, wo Menschenhändler aktiv sind. Die Kampagnen richten sich an alle Dorfbewohner. Die Zahl der Vorfälle ist in manchen Regionen deutlich zurückgegangen. Aber gerade in den ärmsten und rückständigsten Bundesstaaten wie Uttar Pradesh oder Rajasthan ist die finanzielle Not so groß, dass sich Eltern häufig über ihre Bedenken hinwegsetzen.

Warum geraten Frauen jenseits der Menschhändler in die Prostitution?

Brigitte Mandelartz: In den etwas wohlhabenderen, südlichen Andhra Pradesh reisen viele Kinder aus benachbarten Bundesstaaten ganz alleine und suchen Arbeit. Die Jungen schlagen sich als Straßenkinder und mit Jobs durch oder schließen sich Kinderbanden an. Mädchen werden Hausangestellte, in Fabriken ausgebeutet oder landen in der Prostitution.

Ein anderer Grund ist die meist von den Eltern arrangierte Eheschließung von sehr jungen Mädchen mit oft älteren Männern. Wenn diese Frauen frühzeitig verwitwen, werden sie oft  für den Tod ihres Mannes verantwortlich gemacht und gesellschaftlich geächtet. Sie haben kaum eine Chance erneut zu heiraten. Wenn sie nicht von der Familie des Mannes unterstützt werden und keine Arbeit haben, sehen die meisten keine Alternative zur Prostitution.

Ein weiterer Grund ist die patriarchalische Gesellschaftsordnung und der geringe „Wert“ von Frauen in Indien. . Wie in vielen anderen Ländern gibt es auch hier häusliche Gewalt, Missbrauch und Vergewaltigungen. Ein davon betroffenes junges Mädchen fühlt sich beschmutzt, vermeintlich ohne Ehre und ohne Chance auf eine Heirat. Das ist leider ein Weg in die Prostitution, der viele betrifft. Nur Opfer aus höheren Schichten mit einer gewissen Bildung ebnen sich andere berufliche Wege.

1000 Frau in Khori, Indien, lauschen Vorträgen anlässlich des Internationalen Frauentages.

1000 Frau in Khori, Indien, lauschen Vorträgen anlässlich des Internationalen Frauentages. © Anna Dirksmeier/MISEREOR

Kommt es in Indien häufiger zu häuslicher Gewalt als in der deutschen Gesellschaft?

Brigitte Mandelartz: Mit solchen Vermutungen wäre ich vorsichtig. Die offizielle Vergewaltigungsrate ist ähnlich hoch wie hier in Deutschland oder Frankreich, aber die Dunkelziffer liegt viel höher. Vergewaltigungen passieren insbesondere innerhalb der Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, im öffentlichen und im ländlichen Raum. Es ist für Frauen auf dem Land richtig gefährlich, wenn sie sich auf den Feldern erleichtern müssen, weil es drinnen keine sanitären Einrichtungen gibt. Frauen sind darum oft in Gruppen unterwegs, um sich zu schützen. Im städtischen Umfeld sind vor allem die jungen Frauen gefährdet, die beispielsweise nachts in Callcentern arbeiten und danach mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren.

Ganz viele Opfer trauen sich nicht, eine Vergewaltigung anzuzeigen, weil die Gesellschaft mehrheitlich frauenfeindlich ist. Wie in vielen Fällen bekannt wurde, haben Polizisten den Opfern eine Schuld zugesprochen und sie während des Verhörs sogar sexuell belästigt. Viele Beamte weigern sich Anzeigen aufzunehmen – insbesondere von Frauen aus den Unterschichten oder von sogenannten Kastenlosen, den Dalitfrauen. Diese Opfergruppen ernten eher Häme und Spott und werden doppelt diskriminiert. Es passiert gar nichts, wenn sie sich nicht an Menschenrechtsaktivisten wenden.

Gibt es dagegen Gesetze?

Brigitte Mandelartz: Diskriminierung aufgrund der Kastenzugehörigkeit ist gesetzlich verboten. Es gibt auch eine Reihe von Quotenregelungen für Jobs zugunsten von Kastenlosen. Aber das Kastensystem selbst besteht seit Jahrtausenden und wird auch nicht in Frage gestellt.

Natürlich ist auch Vergewaltigung unter Strafe gestellt und seit 10 Jahren gibt es ein Gesetz gegen häusliche Gewalt. Das Problem ist, dass es an der Umsetzung fehlt. Die Gesetze halten niemanden ab, weil die Täter eine Kultur der Straflosigkeit genießen. Das wurde an dem spektakulären Fall der jungen Studentin deutlich, die 2012 an den Folgen einer Massenvergewaltigung in einem Bus in Neu Dehli gestorben ist. Im Interview mit einem der Täter wurde in erschreckendem Maße deutlich, dass der junge Mann überhaupt kein Unrechtsbewusstsein hatte. Es gibt also viele Mehrfachtäter, die häufiger schon Frauen vergewaltigten und nie irgendwelche Probleme hatten. Sie kommen mit der Masche durch und scheren sich nicht um Gesetze.

Wenn eine Frau als Prostituierte gearbeitet hat, kann sie dann noch aussteigen?

Brigitte Mandelartz: Theoretisch gibt es immer die Möglichkeit, wegzulaufen oder eine Hotline anzurufen, durch die man Hilfe bekommt. Aber die Frauen werden so unter Druck gesetzt, dass sie diese Möglichkeit gar nicht in Betracht ziehen. Viele haben von gescheiterten Fluchtversuchen gehört und davon, dass Frauen danach fürchterlich drangsaliert wurden. Die Angst ist viel zu groß. Während meiner Projektreisen wurde im Gespräch mit Sozialarbeiterinnen sehr deutlich, wie lange es dauert, bis Sexarbeiterinnen Vertrauen zu anderen Menschen fassen und sich auf den Gedanken an einen Ausstieg einlassen. Beim Straßenstrich versuchen die Sozialarbeiterinnen Kontakte zu knüpfen, wenn kein Zuhälter in Sicht ist. Ein Hebel sind Angebote zu gesundheitlichen Hilfen. Das Wichtigste ist natürlich, den Mädchen und Frauen Alternativen zu bieten, beispielsweise einen Schulabschluss oder eine handwerkliche Ausbildung. Das funktioniert und die Zahlen sprechen für sich. Doch wenn ein Zuhälter Wind davon bekommt, ist er sauer und es kann gefährlich werden– auch für die Sozialarbeiterinnen.

Es finden übrigens auch Rettungsaktionen statt. Unsere Partnerorganisation arbeitet eng mit der Polizei zusammen. In einer „Nacht und Nebelaktion“ befreien Polizisten und Sozialarbeiterinnen zusammen die Frauen aus der Zwangsprostitution und bringen sie in Zentren, wo sie Therapie und psychosoziale Unterstützung erfahren.

Sind Prostituierte immer alleinstehende Frauen?

Brigitte Mandelartz: Nein, die meisten sind verheiratet mit Männern, die ihre Zuhälter sind. Auf meinem letzten Projektbesuch hat mich überrascht, wie viele muslimische und ältere Frauen in traditioneller Burka unter den Prostituierten sind. Das Gewand ist ein Schutz für sie, um „draußen“ nicht erkannt zu werden. Die Arbeit in Bordellen oder „im Freien“ und ihr Zuhause halten sie strikt getrennt. Manche leben auch im Rahmen einer Vielehe und ihre Ehemänner wissen nichts von ihrer Arbeit.

Wo liegen die Ursachen für die Frauenfeindlichkeit?

Brigitte Mandelartz: In den letzten Jahrhunderten hat sich die Situation immer weiter zugespitzt zu einem Teufelskreis: Frauen, die selbst immer nur Erniedrigung erlebt haben, geben die vielfältigen Benachteiligungen an die eigenen Töchter weiter. Generationenübergreifend fühlen sich Mädchen minderwertiger, erleben die Vormachtstellung ihrer Brüder, die zur Schule gehen dürfen, während sie selbst im Haushalt bleiben. Es ist schwierig dieses Denken über die eigene Minderwertigkeit aufzubrechen. Faktisch herrscht eine patriarchale chauvinistische Kultur vor, in der die Frau eine untergeordnete Stellung hat. Und trotzdem gibt es auch einen gegenläufigen Trend: Die Alphabetisierungsrate bei Mädchen steigt, die Zahl der Frauen mit politischen Ämtern und mit unternehmerischer Verantwortung ist gewachsen, es gibt eine Frauenquote im nationalen Parlament und auf der Kommunalebene und schließlich arbeiten Frauen sogar bei der Polizei

Welche Projekte hat Prajwala aufgebaut?

Brigitte Mandelartz: Mittlerweile leitet Prajwala achtzehn „Transition Centers“, in denen die Kinder von Prostituierten unterrichtet werden und später in regulären Schulen weiterlernen können. Alle Frauen sind glücklich, dass sie ihre Kinder nicht mehr mit zur Arbeit nehmen müssen, sondern sie von morgens bis abends gut untergebracht wissen! Die Mütter dieser Kinder nennen sich „working mums“ und haben sich zu Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen. Sie informieren sich regelmäßig über den Lernerfolg ihrer Kinder, haben Sparprogramme begonnen und holen teilweise ihren Schulabschluss nach. Das Management der Schulen liegt völlig in den Händen dieser Frauengruppen, während Prajwala nur die Lehrkräfte stellt. Die Frauen haben sich auch zum Ziel gesetzt, über das Mitgiftsystem aufzuklären und werben dafür, sich diesem System zu verweigern.

Dann gibt es noch Therapiezentren, beispielweise in Amagal. Hier leben 350 Frauen und 150 Kinder, die zum Teil erst sechs Jahre alt sind…alles ehemalige Zwangs-Prostituierte oder Opfer von Cyberpornografie. Das Zentrum ist komplett selbstversorgend, die Frauen und Mädchen arbeiten auf den Feldern und werden in Holz-, Metall-und Näharbeiten ausgebildet. Sie lernen Selbstvertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten, mit denen sie Geld verdienen können ohne den eigenen Körper zu verkaufen. Von den fünfzig bis sechzig Mitarbeitern im Zentrum sind siebzig Prozent ehemalige Opfer.

Was sind das für Frauen, die bei Prajwala aktiv sind?

Brigitte Mandelartz: Die Leiterin von Prajwala geht mit ihrer Geschichte ganz offensiv um. Sie ist selbst als junges Mädchen vergewaltigt worden und hat das als „himmelschreiendes Unrecht“ erlebt. Sie ist ihr gesamtes Berufsleben als Frauenrechtlerin aktiv gewesen. Erschreckenderweise haben viele Aktivistinnen eine eigene Gewalterfahrung gemacht. Es ist unglaublich beeindruckend, was für tolle Frauen es in den indischen NGOs gibt, die sich mit unheimlicher Power für Frauen, Kastenlose und Marginalisierte einsetzen. Und ich setze auf die Generation von jungen Frauen, die man in so manchem Mädchencollege erlebt. Wie selbstbewusst sie diskutieren und wie sie auf ihr Leben blicken, das macht hoffnungsfroh, dass sie für einen Wandel in der Gesellschaft sorgen werden.


 

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… zum Thema „Sexualisierte Gewalt als Mittel der Kriegsführung“

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Eva Wagner arbeitete bis 2016 im Berliner Büro von MISEREOR.

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