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Alltag in São Paulo: Familienleben auf 3×3 Quadratmetern

Rene Ivo Goncalves vom Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia in Sao Paulo

Rene Ivo Goncalves vom Menschenrechtszentrum Gaspar Garcia in Sao Paulo

René Ivo Gonçalves war als Gast der MISEREOR-Fastenaktion die letzten Wochen hierzulande unterwegs und hat vielen interessierten Zuhörern über São Paulo berichtet. Das Berliner Büro von MISEREOR veranstaltete mit dem Experten vom Menschenrechtszentrum Gaspar García auch ein Fachgespräch mit dem Titel: „Fokus São Paulo – Für das Recht auf menschenwürdiges Leben in der Stadt“. Im Interview berichtet er nochmals von seiner Arbeit und der Situation in der Megametropole.

Fühlen sich die Einwohner von São Paulo mit ihren Wohnungsproblemen allein gelassen?

René Ivo Gonçalves: Die Einwohner von São Paulo haben gemerkt, dass der Staat nicht unbedingt auf ihrer Seite ist, sondern auf der Seite der Eliten. Der Staat unterstützt die Immobilienspekulanten. Es werden keine Wohngebäude für die ärmeren Bevölkerungsschichten errichtet, sondern Luxusgebäude. Wir haben 16.000 Obdachlose in der Stadt. Schätzungsweise zwei Millionen Menschen leben in Gegenden, wo jegliche Infrastruktur fehlt, in den so genannten Favelas. Staatliche Projekte für neuen Wohnraum konzentrieren sich nur auf die Randgebiete, wohingegen es in den Zentren  generell an sozialem Wohnungsbau fehlt. Es gibt dort allerdings viele alte, leerstehende Gebäude mit zwei Stockwerken, die sogenannten Cortizos, die über Mittler an mehrere Parteien vermietet werden – ohne Mietvertrag und insofern ohne Rechtschutz. Das sind ganz kleine Wohnungen, in denen sich das Familienleben auf 3×3 Quadratmeter abspielt in Küche, Schlafzimmer und Wohnzimmer. Die Parteien teilen sich die Waschräume und das Bad. Wir haben eine Studie gemacht, wonach der Preis pro Quadratmeter für diese alten Häuser teurer ist als der Quadratmeterpreis für edle Luxuswohnungen im Stadtzentrum. Trotzdem ziehen es die Menschen vor, in diesen prekären Wohnverhältnissen zu leben anstatt am Stadtrand, weil es jeweils zwei Stunden dauert bis man zur Arbeit bzw. nach Hause kommt. Viele sind zu uns gekommen und erzählten, dass der Eigentümer all ihre Sachen einfach auf die Straße gestellt und gesagt hatte: „Hier dürft ihr nicht mehr wohnen.“

Clarinda Maria da Fonseca in ihrer 1-Zimmer-Wohnung, Hausbesetzung Rodolfo Miranda, Sao Paulo, Brasilien; Foto: Florian Kopp / Misereor

Clarinda Maria da Fonseca in ihrer 1-Zimmer-Wohnung, in Sao Paulo, Brasilien.  Foto: Florian Kopp / Misereor

Was versuchen Sie vom Menschenrechtszentrum Gaspar García zu erreichen?

René Ivo Gonçalves: Als wir uns 1988 unser Zentrum gegründet haben, spielten Kirchenvertreter eine besondere Rolle. Sie sagten, dass wir nicht nur im Inneren der Kirche wirken dürfen, sondern auf die Straße gehen und die Menschen ansprechen müssen. So ist unsere Arbeit entstanden, um die Rechte der Menschen zu verteidigen und um gegen Zwangsräumung anzugehen. Es ist ein Kampf für diejenigen, die keine Rechte haben. Wichtig ist, dass wir nicht für die Menschen handeln, sondern zusammen mit den Menschen. Wir wollen ihnen mit auf den Weg geben, dass wir nur vereint vorgehen können.

Wir machen das in vier Schritten. Zunächst einmal geben wir den betroffenen Personen, die Leid erfahren, die Message mit: „Du bist nicht allein!“ Und dann versuchen wir sie zu vernetzen mit anderen und so zu unterstützen, dass aus einer individuellen Situation eine kollektive Bewegung wird, die ihre Forderungen schnell in der Gesellschaft verbreiten kann. Wir bringen diese Bewegungen mit Experten zusammen und vernetzen die sozialen Bewegungen zusammen untereinander. Schließlich geht es darum, was für eine Stadt wir eigentlich wollen und was wir fordern.

Mit welchen Zielgruppen arbeitet das Menschenrechtszentrum konkret zusammen?

René Ivo Gonçalves: Für uns ist die ganz konkrete Arbeit mit den Menschen sehr wichtig, die auf der Straße leben. Sie haben ein komplett zerstörtes Leben. Das sind in São Paulo 16.000, von denen die meisten unter Brücken oder in Eingangsbereichen schlafen und für die Gesellschaft unsichtbar sind. Wir versuchen sie zu vereinen, mit ihnen zu reden und ihnen etwas Würde zurückzugeben –  auch durch eine Dusche in unserer Einrichtung.

Wir haben weiterhin festgestellt, dass sie recyclingfähiges Material sammeln und dieses dann im Nachgang verkaufen. Daran setzen wir an. Zwar gibt es schon heute viele Kooperativen, die mit Recyclingmaterialien arbeiten, aber nur etwa 10% des recyclingfähigen Materials wird überhaupt verarbeitet. Darum wollen wir zusammen mit anderen Organisationen ein soziales Inklusionsprogramm aufstellen, das auf dem Recycling von Materialen basiert.

Centro Gaspar García unterstützt darüber hinaus Straßenverkäufer. Sie stehen sinnbildlich für eine Entwicklung der letzten Jahre: Die Arbeitslosigkeit steigt immer weiter an und die Menschen sehen sich gezwungen, Waren einzukaufen und zu einem höheren Preis wieder zu verkaufen. Sie haben keine Sozialversicherung und zahlen nicht in die Rentenkasse ein. Auch ihre Versorgung mit sanitären Einrichtungen am „Arbeitsplatz“ ist denkbar schlecht. Die informellen Tätigkeiten werden nur geduldet, weil Polizisten bestochen werden, damit die Verkäufer ihre Waren behalten dürfen. Diese Leute fühlen sich natürlich als Bürger zweiter Klasse. Uns geht es darum, auf diese Missstände aufmerksam zu machen. Die Politiker sind gefordert und müssen konstruktive Lösungen finden.

Was machen Sie genau inhaltlich, um das Recht auf menschenwürdiges Leben und sozialen Wohnungen durchzusetzen?

René Ivo Gonçalves: Wir kämpfen beispielsweise dafür, dass das Programm »minha casa, minha vida« in der Verfassung verankert wird. Es ist das größte Subventionsprogramm für sozialen Wohnungsbau in Brasilien und weltweit. Doch es mangelt an Kontinuität, weil es nach jedem Regierungswechsel wieder umgeworfen werden kann. Die sozialen Bewegungen, die sich vor 15-20 Jahren organisiert haben, setzten gegenüber dem Staat durch, dass sie selber die Ressourcen verwalten und zwar nach dem Prinzip: „Mein Haus – mein Leben“. Der Staat zahlt also einen Zuschuss für den Bau von Eigentumswohnungen und vergibt Kredite. Die Bewohner müssen nur ein bestimmtes Einkommen nachweisen und dürfen nur eine Wohnung bauen. In der Folge wurden viele günstigere Wohnungen errichtet mit besserer Qualität und ab und an konnten Bewohner selbst als Bauherren auftreten. Doch mittlerweile sind die Grundstücke in den großen Städten zu teuer, so dass das Programm nicht mehr konsequent umgesetzt wird. Soziale Bewegungen haben sich zur Aufgabe gemacht, Listen darüber aufzustellen, wer von diesem Programm profitieren sollte. Und unsere Aufgabe ist es dann, diese sozialen Bewegungen zu beraten. Wir ermitteln also nicht selbst den Bedarf.

Foto: Florian Kopp / Misereor

Foto: Florian Kopp / Misereor

Ein großes Thema für uns ist auch die Beratung von Geringverdienern, die leerstehenden Wohnraum besetzen. Wir haben in Brasilien schon seit dreißig Jahren besetzte Häuser und besetze Grundstücke, die irgendwann geräumt werden. Mittlerweile kommt es auch zu Besetzungen, um auf Missstände aufmerksam zu machen, denn es gibt ungefähr 40.000 leerstehende Wohnungen in der Stadt, die saniert und für soziale Zwecke vermietet werden könnten. Und wir haben viele leere Bürogebäude, die optimal als Kulturzentren dienen könnten. Aber all das geschieht einfach nicht. Aktuell gibt es 100 Besetzungen und wir hinterfragen nicht, warum oder wer ein Gebäude besetzt hat, aber wir beraten jeden Besetzer in Rechtsangelegenheiten.

Was waren die wichtigsten Erfolgserlebnisse der letzten Zeit für Sie?

René Ivo Gonçalves: Im Zuge einer Besetzung wurden zwei Gebäude mit jeweils achtzehn Stockwerken wurden vom Staat erworben, saniert und in sozialen Wohnungsbau umgewandelt. Im letzten Jahr wurde auch erstmals ein Gesetz angewendet, das ursprünglich Besitzverhältnisse im ländlichen Bereich regelt. Es sieht einen Eigentumstitel für denjenigen vor, der ein Stück Land zehn Jahre lang bewirtschaftet ohne dass sich der eigentliche Eigentümer kümmert und Steuern zahlt. Dieses Konzept hatte man in den städtischen Bereich übertragen. Im Falle eines Hochhauses, in dem Leute schon seit einigen Jahren illegal leben, wiesen wir nach, dass kein Interesse von Seiten des Eigentümers mehr besteht. Die Besetzer können nun nicht nur in diesem Haus bleiben, sondern gründeten einen Verein und jeder Bewohner ist nun Eigentümer seiner Wohnung geworden sogar mit Verkaufsrechten.

Die große Herausforderung für uns besteht darin, die Ziele der landesweit vielen Bewegungen unter einen Hut zu bringen und zusammenzuschließen beispielsweise die Bewegung für mehr Wohnraum oder die zentrale der Bürgerbewegung. Von der Politikerseite in Brasilien können wir nicht viel erwarten. Aber wir sind auf einem guten Weg damit.

Darüber hinaus veranstalten wir Seminare, mit denen wir versuchen, intensiv auf die Situation der Menschen aufmerksam zu machen und ein Bewusstsein für ihre Notlage zu schaffen. Es ist vor allem die Basisarbeit, die wir dafür als Hebel benutzen. Die Zusammenarbeit mit Misereor ist für uns fundamental, weil wir uns breiter aufzustellen und mehr Menschen in einer Notlage helfen können. Wir laden Dozenten oder Professoren ein, die mit ihrer Expertise zu uns kommen und wir können die Transportkosten bezahlen, damit Menschen unsere Bildungsmaßnahmen genießen. Paulo Freire, ein brasilianischer Gelehrter, sagte immer: „Wenn die Bildung nicht die Gesellschaft in Frage stellt, dann hat der heute Unterdrückte in Zukunft den Wunsch, selber zu unterdrücken.“

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Eva Wagner arbeitete bis 2016 im Berliner Büro von MISEREOR.

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