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Um wessen Sicherheit geht es eigentlich?

Inmitten der anhaltenden Debatte über die Bekämpfung von Fluchtursachen stimmt der Bundestag heute über die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes an der EU-geführten militärischen Ausbildungsmission in Somalia EUTM ab. „Die immer noch weit verbreitete Korruption, organisierte Kriminalität, Terror und unsichere Lebensverhältnisse sowie fehlende wirtschaftliche Entwicklung sind maßgebliche Ursachen für die prekäre Sicherheitslage“, heißt es im Antrag der Bundesregierung. „Diese Faktoren wirken sich negativ auf die regionale Stabilität aus und sind auch einer der Gründe für die von Somalia ausgehenden Flüchtlingsbewegungen, welche die Interessen der EU-Mitgliedsstaaten unmittelbar berühren.“

Zäune können langfristig keine Sicherheit garantieren © MISEREOR

© MISEREOR

Im Klartext soll das heißen: Die prekäre Sicherheitslage in Somalia ist für Flüchtlingsbewegungen nach Europa verantwortlich. Und interne Gründe sind für die prekäre Sicherheitslage in Somalia verantwortlich. Dieser Fokus auf interne Faktoren bei der Erklärung von Flüchtlingsbewegungen ist nicht neu. Schon Anfang der 1980er Jahre diskutierte die Weltgemeinschaft intensiv über Fluchtursachen. Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen UNHCR hatte in den 1970er Jahren zunehmend Probleme bekommen, der weltweit immer größer werdenden Zahl an Flüchtlingen gerecht zu werden.

„Unkluge Verwendung von Zeit“

Im Zuge der Debatte bildeten sich zwei Lager heraus: Westliche Länder identifizierten Unterentwicklung als Sicherheitsrisiko und monierten den fehlenden politischen Willen oder die Unfähigkeit vieler Regierungen, die Menschenrechte für ihre Bevölkerungen zu garantieren. Sie verorteten die Verantwortung für Fluchtbewegungen damit überwiegend im Herkunftsland selbst. Die blockfreien Staaten der „dritten Welt“ und der sozialistische Block betonten hingegen den Einfluss externer Faktoren, z.B. die Nachwirkungen des Kolonialismus‘, strukturelle Ungleichheiten und ungerechte, globale Handelsbedingungen.

Insbesondere im Falle Somalias ließe sich lange darüber diskutieren, welchem dieser beiden Ursachenkomplexe mehr Bedeutung zukommt. Das wäre jedoch „an ill-judged use of time“, eine unkluge Verwendung von Zeit, wie der britische Politikwissenschaftler Mark Duffield treffend kommentierte. „Beide spiegeln valide Aspekte verschiedener aber miteinander verbundener Realitäten wieder“.

Nichtsdestotrotz seien in der politischen Diskussion jene Erklärungsansätze ins Hintertreffen geraten, laut denen die Schaffung von Wohlstand im Norden sich direkt auf den Umfang und die Art der Armut im Süden auswirkt und damit auch Fluchtentscheidungen beeinflusst. Der westliche Fokus auf interne Ursachen habe aus seiner Dominanz heraus bis heute wesentlich mehr Einfluss entfaltet. Wie die EU-Mission in Somalia und der Antrag der Bundesregierung deutlich machen, ist diese Sichtweise bis heute sehr präsent.

Unterentwicklung gefährlich?

Interessanterweise ließen beide Sichtweisen grundsätzlich den Schluss zu, dass Armut oder Unterentwicklung ein Sicherheitsrisiko darstellt. Die entscheidende Frage ist jedoch: Was verstehen wir unter Sicherheit und um wessen Sicherheit geht es eigentlich?

In den 1990er Jahren hatte sich die Sicherheitsdebatte bereits der Idee von menschlicher Sicherheit geöffnet. Statt wie zur Zeit des Kalten Krieges nur zwischenstaatliche, militärische Sicherheit zu betrachten, wurden nun auch weitere Referenzsubjekte von Sicherheit bis hin zum einzelnen Individuum einbezogen. Darüber hinaus wurden neben militärischer Konfrontation nun u.a. auch Hunger, Klimawandel und ökonomische Perspektivlosigkeit als Sicherheitsbedrohungen anerkannt.

Diese Denkweise ermöglicht es, tatsächlich den Menschen im Mittelpunkt zu sehen. Ja, Unterentwicklung ist gefährlich, jedoch allen voran für die direkt Betroffenen. Es geht um die Sicherheit und das Wohlergehen jedes Einzelnen, sei er nun von Gewalt, Hunger, Arbeits- und Perspektivlosigkeit oder dem Klimawandel bedroht.

Obwohl sich dieses Konzept heute in vielen politischen Grundsatzpapieren wiederfindet, haperte es bisher leider noch zu häufig an einer konsequenten Überführung in politische Praxis. Denn nähme man den umfassenden Anspruch des Konzeptes ernst, würde das auch (und gerade) den Industrieländern einschneidende und teils unangenehme Transformationsprozesse abverlangen, im Konsumverhalten und Lebensstil, in der Klima- und Energiepolitik sowie in der Handels- und Investitionspolitik. Die ambitionierte Agenda der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) bietet in dieser Hinsicht einen guten Anknüpfungspunkt, muss aber erst in die Praxis umgesetzt werden.

Scheuklappen weg, Brille wechseln…

In der derzeitigen Debatte um Fluchtursachen lässt sich erkennen: Nach wie vor wird Sicherheit noch überwiegend als territoriale Sicherheit verstanden. Dabei steht in Europa stets die Frage im Vordergrund: Was bedeuten Konflikte, Armut und Flucht in der Welt für die Sicherheit Europas? Bei der Suche nach den Wurzeln von Fragilität und Unsicherheit in der Welt werden transnationale Zusammenhänge und die eigene Mitverantwortung an fragilen Sicherheitslagen weitestgehend ausgeblendet. Dann wird, wie im Falle Somalias, der europäischen Brille Scheuklappen angeheftet, die nur den verengten Blick in die Länder des Südens zulassen.

Vor allem seit den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem anschließenden „Krieg gegen den Terror“ hat die Darstellung von Unterentwicklung als internationales Sicherheitsrisiko erneut Konjunktur. Entwicklung bedeutet aus Geberperspektive seither vor allem auch, die Sicherheitskapazitäten der Empfängerstaaten zu stärken. Staatliche Entwicklungspolitik, so eine häufige Kritik, sei in diesem Kontext zu einem reinen Mechanismus kurzfristiger Stabilisierung eines globalen Systems geworden, das zugunsten der Industrieländer funktioniert. Diese Stabilisierung mindere den Druck zu politischen Transformationsprozessen im Norden und lasse strukturelle Ursachen unberührt.

Henne und Ei!

In der Europäischen Verteidigungsstrategie von 2003 heißt es: „Sicherheit ist die Voraussetzung von Entwicklung.“ Es stimmt: Wie sich in Somalia erkennen lässt, sind Terror, Korruption, Kriminalität und schlechte Regierungsführung Ursachen von Konflikten, Armut und Flucht. Ohne Frage gilt es, entschieden gegen diese Phänomene vorzugehen. Eine militärische Ausbildungsmission ist da nur folgerichtig. In Syrien und vielen anderen Ländern zerstört Krieg materielle und soziale Infrastruktur. Hier verdienen die Betroffenen weiterhin unsere uneingeschränkte Unterstützung.

Dennoch lässt sich die Frage, was zuerst gegeben sein muss, Entwicklung oder Sicherheit, in sehr vielen Kontexten ebenso wenig beantworten wie die Frage nach Henne oder Ei. Möchte man langfristige Stabilität erreichen, ist Entwicklung ist eben auch die Voraussetzung von Sicherheit. Die Schaffung, die Stärkung und der Schutz von Lebensgrundlagen für die Verletzlichsten ist auf die lange Sicht die effektivste Methode, um menschliche Sicherheit für alle zu garantieren. Insofern sind Entwicklung und Sicherheit zwei Seiten einer Medaille.

Wenn eine Medaille zu lange Zeit auf einer Seite liegt, kann die andere leicht in Vergessenheit geraten. Offensichtliche Gefährdungen dürfen jedoch die weniger greifbaren Risiken nicht überlagern. An dieser Stelle bleibt es die Aufgabe von der Zivilgesellschaft, von Organisationen wie MISEREOR, immer wieder die Medaille umzudrehen und sichtbar werden zu lassen, welche Sicherheitsprobleme für viele Armgemachten dieser Welt in ihrem täglichen Überlebenskampf die dringlichsten sind und was diese Gefährdungen mit unserer Politik und unserem Lebensstil zu tun haben.

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Thomas Kuller ist Fachreferent für Friedensförderung und Konflikttransformation bei MISEREOR.

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