Krankheiten wie Diabetes, Asthma oder Bluthochdruck breiten sich in Schwellen- und Entwicklungsländern immer weiter aus. Längst sind sie nicht mehr die „typischen“ Wohlstandserkrankungen: immer häufiger leiden auch Ärmere darunter, vor allem Frauen. In Indien, so schätzt die Weltgesundheitsorganisation WHO, leben in 10 Jahren etwa 80 Millionen Diabetiker. Und schon jetzt ist in einigen Bundesstaaten Indiens wie Andhra Pradesh, Kerala oder Tamil Nadu knapp ein Drittel der Bevölkerung übergewichtig. Zum Weltgesundheitstag, der sich 2016 um die Stoffwechselerkrankung Diabetes dreht, sprach MISEREOR mit Dr. Thriveni Beerenahally vom Institute of Public Health (IPH) in Bengaluru und Dr. Sameer Valsangkar von der Catholic Health Association of India (CHAI).
Misereor: Warum nehmen sogenannte nicht-übertragbare Erkrankungen (NCDs) wie Diabetes in Indien so stark zu?
Dr. Valsangkar: Auch die Inderinnen und Inder konsumieren heute viel häufiger Fertigprodukte und bewegen sich weniger, und das kombiniert mit kohlenhydratreicher Ernährung. Es ist ein Teufelskreis: In den Städten essen die Menschen immer weniger Gemüse, Obst und Getreide, stattdessen gibt es überall Fertigprodukte. Nehmen sie diese Instantnudeln von Maggi – sie sind schnell zubereitet, klein portioniert und überall erhältlich. Und sie sind günstig: Derzeit kostet ein Kilo Tomaten etwa 40 Cent, ein Päckchen der Nudeln keine 13 Cent. Das ist vor allem für die ärmere Bevölkerung attraktiv. Viele Kinder essen die Instantnudeln zwei bis dreimal am Tag. Gleichzeitig ist die Gesundheitsversorgung gerade für die Ärmsten schlecht und ihnen fehlen Informationen zu Fehlernährung und chronischen Erkrankungen. Indien gilt eigentlich als das Land der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Aber in einer Studie haben wir herausgefunden, dass immer weniger Leute in ländlichen Gebieten eigene Lebensmittel anbauen. Einige mussten rund eineinhalb Stunden laufen, um zu einem Markt mit frischem Obst oder Gemüse zu gelangen. Auch hier bevorzugen die Menschen billigere Fertigprodukte aus Supermärkten. Sie sind mittlerweile in jedem noch so kleinen Dorf zu finden.
Wie haben sich die NCDs in den letzten 20 Jahren in Indien entwickelt?
Dr. Beerenahally: Diese Erkrankungen sind weltweit auf dem Vormarsch. Auch und vor allem in Indien und dort vor allem Diabetes. 1972 bis 1975 wurde hier erstmals landesweit die Häufigkeit, die sogenannte Prävalenz, von Diabetes erhoben: damals lag es zwischen 1,5 und 2,1 Prozent bei den über 40-jährigen Inderinnen und Indern. Im Jahr 2013 lag die Prävalenz schon bei 8,2 Prozent: etwa 65, 1 Millionen Landsleute galten als erkrankt. Das ist zwischen 1971 bis zur Jahrtausendwende eine zehnfache Steigerung!
Dr. Valsangkar: Heute hat einer von zehn Inderinnen und Indern Diabetes. Früher dominierte die Sorge um HIV oder Tuberkulose, heute um chronische Erkrankungen. Jeder, den ich heute treffe, jeder, den ich spreche, hat mindestens ein Familienmitglied mit Diabetes. Ob in der Stadt oder auf dem Land, ob arm, oder reich – das gleicht sich immer mehr an. In Udaipur im Süden des Bundesstaates Rajasthanhaben viele Menschen keinen Zugang zu fließend Wasser oder Strom, dort gibt es kein Handynetz. Der Fortschritt scheint weit weg – Aber auch dort erkranken immer mehr Menschen aufgrund eines ungesunden Lebenswandels an Diabetes.
Dr. Beerenahally: In einer unserer Studien in Kadugondanahalli (KG Halli), einem Stadtteil von Bagaluru mit etwa 44.500 Einwohnern auf einer Fläche von weniger als einem Quadratkilometer, haben wir herausgefunden, dass vor allem Ärmere und darunter vor allem Frauen unter den Folgen von Diabetes leiden. Diese Entwicklung zeigen auch viele andere Studien auf.
Wie erfahren sie all das in ihrer täglichen Arbeit?
Dr. Valsangkar: Diabetes ist eine „stille“ Krankheit, typische Symptome wie Durst oder Müdigkeit sind nicht offensichtlich. In anderen Ländern wird jeder Bürger über 40 regelmäßig auf Diabetes getestet – nicht in Indien. Unser Gesundheitssystem ist vollkommen überlastet, es gibt weder genug medizinisches Ausstattung noch Medikamente, um die Leute zu testen oder sie langfristig zu behandeln. Bei vielen Menschen bleibt die Krankheit also unerkannt oder unbehandelt. Sie erblinden früher oder später, verlieren Gliedmaße oder werden nierenkrank. Männer in ihren produktivsten Jahren sind nicht mehr arbeitsfähig. Das belastet auch den Staat: Er kämpft gegen AIDS, Tuberkulose und die sogenannten „Wohlstandserkrankungen“ auf der einen und gegen die Unterernährung eines Großteils seiner Bevölkerung auf der anderen Seite.
„In einem Slum traf ich eine alte Dame, die aufgrund ihrer Diabeteserkrankung erblindet war. Ihr Blutzuckergehalt lag bei einem bedrohlichen Wert von 400 Milligramm pro Deziliter. Sie war extrem überrascht, esse sie doch selten und nur industriell verarbeitete Lebensmittel. Viele Menschen in Indien wissen einfach nicht, welche Ursachen und schlimmen Folgen Diabetes haben kann und wie man die Krankheit behandelt.“ Dr. Sameer Valsangkar, CHAI
Dr. Beerenahally: Unsere Wirtschaft wird diese Belastung in den kommenden Jahren stark spüren: Die nicht-übertragbaren und chronischen Erkrankungen werden uns bis 2030 mehr als 2,6 Milliarden Euro kosten. Und damit 35 Mal so viel wie unsere jährlichen Ausgaben für das Gesundheitssystem. Für ein derart schwaches Gesundheitssystem wie das indische wird die Entwicklung chronischer Krankheiten somit eine enorme Herausforderung. Und die können wir nur bewältigen, wenn es zu einem Paradigmenwechsel kommt – hin zu einem System, dass die unterschiedlichen Anforderungen und die langfristige Versorgung von chronisch Erkrankten im Blick hat.
Was muss also unternommen werden, damit Diabetes vorgebeugt werden kann und die Zahl Erkrankter sinkt bzw. nicht weiter derart stark ansteigt?
Dr. Beerenahally: Medikamente für chronische Erkrankungen müssen ein Leben lang genommen und finanziert werden. Derzeit übernimmt der indische Staat für die Menschen, die unterhalb der offiziellen Armutsgrenze leben*, die Krankenversicherung. Das gilt aber nur für Krankenhausaufenthalte. Im Fall von Diabetes oder anderer chronischer Erkrankungen ist es aber die ambulante Betreuung, die entscheidend ist und sprichwörtlich finanziell „arm macht“. Der Staat muss daher dringend die Fürsorge gerade für die Ärmsten – und damit meine ich nicht nur die, die unterhalb der offiziellen Armutsgrenze leben – auf die ambulante Versorgung ausweiten. Das gilt für die Diagnose und Bereitstellung von Medikamenten in öffentlichen Einrichtungen und in Basisgesundheitseinrichtungen wie Hausärztepraxen. Der Staat hätte die Möglichkeit, mehr kostengünstigere Generika zu nutzen und somit auch Behandlungskosten zu senken.
Dr. Valsangkar: Die Regierung erkennt das leider nur langsam.
MISEREORs Arbeit zur Basisgesundheitsvorsorge in Indien
Zusammen mit Partnern wie dem IPH und CHAI setzt sich MISEREOR in Indien dafür ein, dass die Basisgesundheit vor allem für die ärmere Bevölkerung verbessert wird und staatliche Einrichtungen ihrer Pflicht einer qualitiven und für Arme zugänglichen Basisgesundheitsversorgung nachkommen. Im Slum KG Halli in Bangaluru bildet z. B. das IPH Gesundheitsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter in den Community Health Centern aus, die zusammen mit privaten und staatlichen Gesundheitsanbietern und den Bewohnern der Viertel eine für alle zufriedenstellende und erschwingliche Gesundheitsversorgung – vor allem bei chronischen Krankheiten – erreichen sollen. Das IPH und CHAI machen regelmäßige Hausbesuche zur Früherkennung von nicht-übertragbaren Erkrankungen und klären über Ursachen, Symptome und Folgen der Erkrankungen sowie Behandlungsmöglichkeiten auf.
Weitere Informationen
Blog- Artikel: „Kein JunkFood mehr an indischen Schulen“
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Guten Tag Frau Struck,
mit Erstaunen habe ich ihren in 2016 verfassten Bericht gelesen und mache mir da so meine Gedanken.
Als Orthopädieschuhmacher mit 30 Jahren Berufserfahrung, davon 22 als Handwerksmeister bin ich im Rahmen des Handwerksmeister international an der Unterstützung von Gesundheitsprojekten interessiert die sich mit der praktischen Versorgung von Menschen mit Fußproblemen beschäftigen.
Gibt es bei ihnen aktuell Projekte die sich mit diesem oder einem ähnlichen Thema beschäftigen bei denen ich Unterstützung leisten kann?
Gerne sende ich ihnen dazu alle notwendigen Unterlagen zu damit sie sich von meinen bisherigen Tätigkeitsschwerpunkten ein Gesamtbild machen können.
Na, wenn man aus Geldnot seinen Kindern drei mal am Tag „Maggi“ Instantnudeln auftischen muss, läuft was falsch. Aber was soll die Mutter den anders machen? Dort gibt es nunmal keinen andere Möglichkeit seine Kinder satt zu bekommen als günstige Fertigprodukte. Dort gilt folgender Satz nicht: Iss n Apfel oder mehr Bananen, würde dir gut tun…. Eine Lösung kann ich nicht anbieten. Vielleicht wäre ein Ansatz die „massive“ Kontrolle von Instantgerichten und Verbesserung derer Inhaltsstoffe auf nur noch „mäßig“ schädlich?