Vor genau einer Woche hat uns eine Mail vom Leiter des Al Rajaa Krankenhauses in Aleppo, das wir unterstützen, erreicht.
Trotz Waffenstillstand nehmen seit Anfang April die Gefechte in Aleppo wieder ein schockierendes Ausmaß an. Nahost-Expertin Astrid Meyer bekommt von den Partnern Nachrichten über 40 Tote an nur einem Tag. Der Druck für die syrische Zivilbevölkerung ist unerträglich. Insbesondere Frauen werden zunehmend Opfer von Übergriffen und von häuslicher Gewalt. Familien sind zerrüttet. Im Gespräch versetzt sich Astrid Meyer in die Lage der Menschen vor Ort. Sie berichtet auch über die Hilfe durch das beeindruckende Zusammenwirken von Jesuiten- und Franziskanerbrüdern, Ortskräften und Ehrenamtlichen.
Wie gut hält nach Ihren Informationen die Waffenruhe?
Vor genau einer Woche hat uns eine Mail vom Leiter des Al Rajaa Krankenhauses in Aleppo erreicht, das wir unterstützen. Er schrieb, dass allein an einem Tag 40 Tote und Verletze in die Klinik gebracht worden sind. Auch die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte spricht insbesondere seit April von wieder aufflammenden Kämpfen. Seit Anfang April nehmen die Kämpfe dort ein besorgniserregendes Ausmaß an.
Bereits seit Beginn der Waffenruhe, die am 27. Februar in Kraft getreten ist, gibt es täglich schätzungsweise Dutzende Verstöße. Hintergrund ist, dass der Waffenstillstand ja weder für den syrischen Al Kaida-Ableger Nusra noch für den sogenannten Islamischen Staat und andere radikalislamische Gruppierungen gegolten hat. Sie hatten der Vereinbarung nicht zugestimmt. Mitte März kündigte dann die syrische Armee an, rund um den 10. April Aleppo als größte Stadt und Wirtschaftszentrum des Landes zurückzuerobern. Die aktuell massiven Kämpfe vergrößern den Druck auf die Menschen in Aleppo und in Al Raqua, wo es nach meinen Informationen täglich bis zu 30 Tote und Verletzte gab.
Wie wirkt sich das auf die humanitäre Situation aus?
Insgesamt konnte die akute Notlage für die Zivilbevölkerung verbessert werden – insbesondere in den belagerten Städten nördlich von Damaskus und nahe an der türkischen Grenze wie Madaya. Doch die kumulierten Traumata und die unsichere Lage beeinträchtigen die Situation der Zivilisten massiv.
Insgesamt ist die medizinische Versorgung enorm schwierig, weil die vormals staatlichen Kliniken darniederliegen und sich ein florierender Schwarzmarkt für Medikamente und Verbandsmaterial breit gemacht hat. Das alles muss komplett durch Hilfsorganisationen aufgefangen werden. Darum haben wir unsere Unterstützung für das All Rajaa Hospital in Aleppo aufgestockt. Die Belegung der Klinik ist extrem hoch und ein neues Röntgengerät war unbedingt erforderlich.
Auch die Trinkwasserversorgung ist schon seit Beginn der Krise 2012 vor allem in Aleppo eine Katastrophe. Wasser wird strategisch von den Konfliktparteien als Waffe eingesetzt, was einen Bruch des Kriegsrechts bedeutet. Darum haben wir in Kooperation mit unseren Partnern vor Ort ein Wasserprojekt auf den Weg gebracht.
Und in der Großstadt Aleppo kommt es ständig zu Stromausfällen, die mit Generatoren überbrückt werden müssen. Unsere Partnerorganisationen haben in höher gelegene Ortschaften warme Kleidung, Decken und Hygieneartikel gebracht, weil es bis jetzt dort ziemlich kalt war.
Wer braucht die Hilfe am dringendsten?
Hilfe brauchen vor allen Dingen diejenigen, die nicht fliehen können: Menschen mit angeschlagenem Gesundheitszustand, Ältere oder Leute mit Behinderung. Darum unterstützen wir in Aleppo, Damaskus, Knave und Latakia Sozialzentren der Franziskaner, in denen diese Klientel unterstützt wird mit Essen und Schlafplätzen oder durch Reparaturen an ihren zerstörten Häusern. Die Sozialzentren hat es bereits vorher gegeben, aber der Bedarf ist dermaßen gestiegen, dass die Franziskanerbrüder nicht mehr hinterhergekommen sind. Darum haben sie bei Misereor um Unterstützung gebeten. Nach fünf Jahren Krieg sind die Ressourcen der Menschen aufgebraucht und sie können nicht mehr für sich aufkommen. Darum werden auch Solidaritäts-Fonds eingerichtet, um beispielsweise eine Operation für Personen in besonderen Notlagen zu finanzieren. Die franziskanischen Ordensbrüder haben zusammen mit lokalen Fachkräften und Ehrenamtlichen kontinuierlich den Bedarf ermittelt und arbeiten sehr gut zusammen.
Wie viele Menschen begeben sich nach wie vor auf die Flucht?
Unverändert viele machen sich auf den Weg, aber Jordanien und der Libanon handhaben ihre Einwanderungspolitik mittlerweile sehr strikt. Nach fünf Jahren Krise und großer Solidarität gibt es mittlerweile kaum mehr legale Fluchtwege in die beiden Länder. Die syrischen Flüchtlinge geraten in sehr schwierige und bedrohliche Situationen, was wiederum ihre zurückgebliebenen Angehörigen stark belastet. Das sind Aspekte von Flucht, über die wir wenig wissen: die tagtäglichen Sorgen der Zurückgebliebenen um ihre Angehörigen, aber auch um diejenigen, die verletzt sind, und die große Trauer um diejenigen, die sie schon verloren haben.
Über die Frauen auf der Flucht wird immer mal geschrieben. Was ist mit den Frauen vor Ort?
Wir haben aus verschiedenen jüngsten Berichten von Partnern herausgelesen, dass insbesondere die Last der zurückgebliebenen Frauen enorm hoch ist. Gegangen sind ja vor allem die jüngeren Männer in der Hoffnung, dass sie ihre Familien nachholen können. Frauen stehen jetzt in einer völlig neuen Verantwortung und müssen ihre Familien durchbringen. Das ist aufgrund der traditionellen Rollenzuweisung, die Frauen an Haushalt und Familie bindet, besonders problematisch. Viele Frauen begeben sich in dieser neuen Situation häufig in ausbeuterische Arbeitsbedingungen und sind dabei Übergriffen ausgesetzt.
Frauen und andere schwächere Mitglieder der Gesellschaft werden zunehmend Opfer von Aggressionen. Besonders an die Nieren gehen mir die Berichte darüber, dass häusliche Gewalt ein erschreckendes Ausmaß angenommen hat. Wenn der Druck von außen durch Kriegshandlungen und Zerstörung so massiv wird, wenn Bedrohung und Unsicherheit ständig weiterbestehen und wenn Angehörige sterben, dann kann das auch die Familienverhältnisse zerrütten. Dazu kommt, dass die Männer ihre normalen Einkommensmöglichkeiten verloren haben und von der Situation völlig überfordert sind: manche radikalisieren sich, manche desertieren, andere werden gewalttätig. Die Verrohung im Umfeld setzt sich also in den Familien fort. Zusätzlich leben die Familien unter ganz veränderten Bedingungen zusammen, wenn beispielsweise ihre Häuser zerstört worden sind oder man bei Angehörigen Zuflucht finden muss.
Wie muss man sich den Alltag vor Ort vorzustellen?
Die Menschen sind umgeben von aufflammenden Kämpfen und Frontlinien, die sich ständig verschieben. Sie müssen sich immer wieder orientieren und jeder Tag ist anders und neu. Überall explodieren die Preise für Lebensmittel und Trinkwasser und alles läuft über den Schwarzmarkt. Man muss mit den vielen Checkpoints in Damaskus wie innerhalb von Aleppo klarkommen. Es ist sehr schwierig, sich zwischen den verschiedenen Stadtteilen zu bewegen, beispielsweise wenn man Angehörige besuchen will.
Wie kommt Hilfe beim Einzelnen an?
Ich bekam das Einzelschicksal eins muslimischen Jungen mit, das mich sehr berührte. Er wurde wegen einer Schussverletzung in der Brust im Al Rajaa Hospital behandelt. Die Kugel konnte trotz Komplikationen erfolgreich entfernt werden. Er wurde auch menschlich gut behandelt, hat sich stabilisiert und verließ die Klinik mit den Worten, dass er Barmherzigkeit erfahren durfte, die er sonst nirgends vorher erlebt habe.
Mit welchen Problemen kämpfen die Helfer?
Es ist ein ständiges Austarieren, sich sowohl mit den Regimeangehörigen wie mit den anderen Milizen gut zu stellen, wenn man Hilfslieferungen erwartet beispielsweise für das Al Rajaa Hopital. Für alle Projekte in Aleppo läuft der Geldtransfer über Beirut, das heißt, ein Franziskaner macht sich regelmäßig auf den Weg mit einem Koffer voll Geld. Er muss Geleitschutz in Anspruch nehmen und auch mal in irgendeiner Form Bakschisch bezahlen…, das ist so, sonst wäre Hilfe gar nicht möglich.
Führen Sie auch Projekte durch, die mit Zukunft und Wiederaufbau zu tun haben?
Wir führen im Libanon ein Bildungsprojekt mit syrischen Flüchtlingen palästinensischer Herkunft durch. Die Teilnehmer absolvieren im syrischen Curriculum ihre Abiturprüfung. In Kooperation mit dem UNO-Flüchtlingshilfswerk bewerkstelligen es unsere Projektpartner, dass diese jungen Menschen zur Abiturprüfung von Beirut vier Autostunden nach Damaskus reisen. Sie legen also in Syrien ihre Prüfung ab, um dann eine Perspektive in ihrer Heimat zu haben, wenn sie wieder zurückkehren können. In Damaskus funktioniert also mehr, als man sich vorstellt.
Mit wem arbeiten Sie vor Ort genau zusammen?
Wir arbeiten mit Franziskanern, Maroniten und Jesuiten zusammen, die unsere Projekte vor Ort managen. Als ich die Gelegenheit hatte, mit ihnen zu sprechen, habe ich eine ganz authentische Haltung wahrgenommen, sich als Christ an die Seite der Benachteiligten zu stellen. Ein Jesuit, den ich aus Ägypten kenne, Abuna Magdi, ist ein besonders krisenerfahrener Mann. Er arbeitet jetzt in Homs. Für ihn ist das Wichtigste, sich an die Seite der Hilfebedürftigen zu stellen, egal welcher Religion sie angehören. Ich habe den Eindruck, dass die Zusammenarbeit zwischen Ordensleuten, Laien und Ehrenamtlichen sehr gut läuft.
Welche Erfahrungen haben Sie mir der Hilfe durch muslimische Organisationen gemacht?
Für mich ist nicht sichtbar, wie sich die muslimische Seite mit Hilfsprojekten engagiert. Vielleicht ist ein Grund dafür die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten, die das Assad-Regime sehr vorangetrieben hat und die sich leider stark bemerkbar macht. Es gibt zwar den roten Halbmond und die syrische Caritas, die versuchen zusammenzuarbeiten, aber sie kämpfen dabei auch mit vielen Schwierigkeiten.
Was erzählen Ihre Partner über die syrische Zivilgesellschaft?
Seitdem die Waffen schweigen, wird die syrische Bürgerbewegung gegen Assad wieder sichtbarer, die es seit 2011 gibt und durch deren Proteste alles ausgelöst wurde. Sie machen sich für einen Wiederaufbau stark und wir möchten dieses zivilgesellschaftliche Engagement jenseits der Kirchen gerne unterstützen. Ich habe zum Beispiel Berichte gelesen, dass sich Nachbarschaftskomitees bilden, die sich gegenseitig helfen, die Müllabfuhr organisieren und vieles mehr. Sie versuchen Solidarfonds für Familien einzurichten, die Angehörige verloren haben oder deren Ersparnisse weg sind. Da passiert viel auf einer sehr informellen Ebene.
Wie schätzen Sie die Chancen für einen Frieden ein?
Die Menschen sehen sich in einem Stellvertreterkrieg, aber die Mehrheit ist davon überzeugt, dass es keinen Frieden geben wird, solange Assad an der Macht ist. Dieser Diktator hat einfach über Jahrzehnte so viel Unrecht zu verantworten durch seine verschiedenen Geheimdienste. Die Mehrzahl aller Familien ist betroffen. Tausende, die sich nur im Geringsten gewehrt haben, sind verschwunden oder wurden so klein gemacht, dass sie danach den Mund gehalten haben. Ganz aktuell ist das natürlich noch extremer: Über die Verbrechen von Assad zu sprechen, ist sehr schwierig und gefährlich. Die Angst sitzt allen im Nacken. Meinem Eindruck nach gibt es keine Möglichkeit für Frieden unter Assad. Es muss ein international begleiteter Übergangsprozess mit einer Übergangsjustiz etabliert werden, der uns noch sehr lange beschäftigen wird.