Nur wenige hundert Meter von der Innenstadt Nairobis entfernt ersieht die eben noch glitzernde Metropole ganz anders aus. Löchrige Plastikplanen, rostiges Wellblech und unzählige Müllberge. Die Lebensumstände in den etwa 100 Armenvierteln der Hauptstadt Kenias sind erbärmlich: Es gibt kein sauberes Wasser und keinen Strom, keine sanitäre Grundversorgung und keine Müllabfuhr. Bei Regen werden viele Hütten mit giftigen Abwässern überflutet.
Auch die 17-jährige Neema lebte früher in einem löchrigen Verschlag, der eher einem Zelt als einer Hütte glich. „Ich bin die jüngste von sechs Geschwistern“, erzählt sie. Ihre beiden Eltern starben als sie noch jung war. „Von da an verlief mein Leben so“, sagt sie und zeigt mit einer Wellenbewegung der Hand das Auf und Ab ihres Alltags.
60.000 Straßenkinder in Nairobi
Große Armut gehört in Kenias Hauptstadt zum Alltag. Etwa 70 Prozent der 3,4 Millionen Stadtbewohner lebt in Elendsvierteln. Viele dieser Menschen haben oft tagelang nichts zu essen. Sie sind arbeits- und perspektivlos, die Kriminalitätsrate ist extrem hoch. Verzweifelte greifen zu Alkohol, Marihuana und anderen Drogen, um den Hunger zu unterdrücken oder dem schweren Alltag zu entkommen.
Für Kinder ist dieser Alltag besonders hart. Oft schicken ihre Eltern sie betteln oder Müll sammeln, um zum Überleben beizutragen. Für Schulbildung bleiben da keine Zeit und kein Geld. Viele Kinder laufen weg, da sie zu Hause nur Gewalt oder Gleichgültigkeit erfahren. Manche Kinder wie Neema haben keine Eltern mehr. Auf der Straße ernähren sich die Jugendlichen von Abfall und werden nicht selten misshandelt. Die Zahl ist erschreckend: In Nairobi leben über 60.000 Jungen und Mädchen auf der Straße. Das sind mehr Straßenkinder als Straubing Einwohner hat.
Mädchen leiden besonders
„Unter den rauen Verhältnissen auf der Straße und in den Armenvierteln leiden die Mädchen am meisten“, erläutert Mary Njeri Gatitu, die Leiterin des von Miereor geförderten Rescue Dada Centre in Nairobi. Etwa 35 Prozent der Straßenkinder sind Mädchen im Alter bis zu 16 Jahren. Vier von fünf Straßenmädchen mussten bereits sexuelle Gewalt oder Missbrauch erfahren. Rachael zum Beispiel lief vor der Gewalt ihrer Eltern von zu Hause davon, nur um auf der Straße noch Schlimmeres zu erleben. Dreimal wurde sie vergewaltigt, dann erfuhr sie vom Rescue Dada Centre. Andere Mädchen werden zur Prostitution gezwungen oder verkaufen ihren Körper aus purer Verzweiflung. „Die Folge sind viel zu frühe Schwangerschaften, psychische Traumata und HIV-Infektionen“, berichtet Gatitu.
Es ist diesen Mädchen nahezu unmöglich, aus den elenden Verhältnissen zu entfliehen und den Teufelskreis aus Armut, mangelnder Bildung, Gewalt und Not zu durchbrechen. Die Erzdiözese Nairobi gründete das Rescue Dada Centre 1991 daher als eine der wenigen Einrichtungen, die sich explizit an Straßenmädchen richtet. Heute bietet es einen Zufluchtsort für 70 gefährdete Mädchen, die durch das soziale Raster fallen. „Wir versuchen damit eine Lücke in Nairobis Sozialarbeit zu schließen“, so Gatitu.
Misereor-Projekt ein Zufluchtsort für Straßenmädchen
Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des Zentrums suchen die Mädchen in den Elendsvierteln der Stadt auf, schenken ihnen ein offenes Ohr, gewinnen ihr Vertrauen und bieten ihnen einen sicheren Zufluchtsort im Rescue Dada Centre an. Dort haben sie einen geregelten Tagesablauf: Sie lernen ihre Wäsche zu waschen, ihren Körper zu pflegen, Verantwortung zu übernehmen und Konflikte gewaltfrei zu lösen. Therapeuten helfen den Jugendlichen dabei ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Die Mädchen erhalten täglich Schulunterricht und können an beruflichen Qualifizierungskursen teilnehmen. Auch dem Waisenmädchen Neema wurde so geholfen: „Ich bin sehr glücklich hier“, sagt sie dankbar. „Ich bekomme Liebe, es geht mir gut.“
Nach erfolgreicher Rehabilitierung ist es das Ziel, die Kinder nach einem Jahr wieder in ihre Familien zu integrieren. „Dafür ist eine intensive Arbeit mit den Eltern wichtig“, so Gatitu. Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter des Zentrums besuchen deshalb auch die Familien der Mädchen, um ihre sozialen Hintergründe kennenzulernen.. Sind die Eltern verstorben oder kommt ihre Familie nicht mehr in Frage, suchen die Mitarbeiter eine Pflegefamilie oder einen Platz im Internat. Sind die Mädchen einmal ausgezogen, kontrollieren die Sozialarbeiter weitere drei Jahre lang, ob sich ihre Lebensumstände wirklich verbessert haben.
Der Beitrag erschien zuerst im „Straubinger Tagblatt“ am 28.11.2015