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Brasilien: Im Zeichen der Ringe

„Leidenschaft und Transformation“ lautet das Motto der Olympischen Sommerspiele, die Anfang August in Rio de Janeiro beginnen. Seit sieben Jahren laufen die Vorbereitungen für das Megaevent in der Stadt am Zuckerhut, in der nur einen Monat später auch die XV. Paralympischen Spiele ausgetragen werden. Kann die Transformation gelingen?Im Zeichen der Ringe - Brasilien

Als Rio de Janeiro 2009 den Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele bekam, war die Begeisterung enorm. Nur zwei Jahre nach der Fußball-WM würden die Spiele zum ersten Mal in Südamerika stattfinden, in einem der schönsten Orte der Welt. „Cidade maravilhosa“ – wunderbare Stadt – nennen die Cariocas, die Einwohner Rios, ihre Stadt. Kritik an der Entscheidung gab es keine. Denn schien Brasilien nicht prädestiniert zu sein, das Weltereignis auszurichten? Das „Land der Zukunft“, wie Stefan Zweig 1942 Brasilien als Gegenentwurf zum vom Krieg verwüsteten Europa nannte, schien endlich seine Rolle als führende Nation gefunden zu haben. Brasilien feierte – angesichts enormer Entwicklungsschritte anscheinend mit gutem Grund: In der ersten Dekade des Jahrhunderts entkamen 36 Millionen Brasilianer der extremen Armut.

40 Millionen stiegen laut offizieller Statistik in die Mittelschicht auf. Es entstanden 19 Millionen versicherungspflichtige Jobs. Die brasilianische Wirtschaft wuchs um durchschnittlich vier Prozent, der Mindestlohn stieg Jahr für Jahr. Der britische „Economist“ titelte 2010 zum Bild einer fliegenden Christus-Statur: „Brasilien hebt ab“. Ein Land im Olymp. Und Rios Bürgermeister Eduardo Paes versprach die besten Spiele aller Zeiten: „Durch die Olympischen Spiele wächst unsere Stadt zusammen. Rio wird lebenswerter und gerechter.“

Daran glaubt heute niemand mehr. Die Euphorie ist verflogen. Nicht nur, weil Brasilien in eine abgrundtiefe wirtschaftliche und politische Krise geschlittert ist, sondern auch, weil Rio, diese sozial und geographisch so gespaltene Stadt, durch die Spiele nicht zusammenwächst, sondern immer weiter auseinanderdriftet. Wie schon die Fußball-WM 2014 wurde das Sportereignis mit den fünf Ringen der Bevölkerung mit großen Versprechen verkauft, die sich als leer erwiesen. Weder sind diese Spiele günstig für die öffentliche Hand noch ökologisch und sozial nachhaltig. Stattdessen ist klar, das Olympia genutzt wurde, um mächtige Privatinteressen zu befriedigen. Die Bedürfnisse der Allgemeinheit, besonders der Armen, wurden hingegen vernachlässigt. Für sie werden die Spiele, das ist mittlerweile Konsens, keine Verbesserungen bringen. Im Gegenteil.

Sandra Maria de Souza - Kämpferin ohne olympische Nominierung

Sandra Maria de Souza ist eine Kämpferin – auch ohne olympische Nominierung. © Philipp Lichtenbeck/MISEREOR

Sandra Maria de Souza lebt mit ihrem Mann, einem Massagetherapeuten, und ihren vier Kindern in einem Haus in Vila Autódromo. Das ist eine kleine Favela, wie die Armenviertel in Brasilien genannt werden, direkt neben dem Olympischen Park, dem Herzstück der Olympischen Spiele. Der Olympiapark wurde auf einer Halbinsel in der Lagune Jacarepaguá im wohl habenden Stadtteil Barra da Tijuca errichtet. Auf dem Areal sind neun Stadien gebaut worden, das Medienzentrum sowie ein Hotelkomplex. Ganz in der Nähe liegt das Olympische Dorf. Insgesamt zehn Milliarden Euro werden die Spiele nach letzten Berechnungen kosten, drei Milliarden Euro mehr als 2009 veranschlagt. Obwohl von der Allgemeinheit bezahlt, wird der Olympiapark nach den Spielen privatisiert, eine exklusive Wohngegend soll entstehen. Carlos Carvalho, Chef einer der drei Baukonzerne, sagt, dass kein Platz für Arme in der Region sei. Diese würden stinken. Seine Firma Carvalho Hosken gehört zu den großen Wahlkampfspendern von Bürgermeister Paes.

SCHLACHTFELD ARMENVIERTEL

Hütte in Rio

Das bishere Wohnviertel von Sandra Maria de Souza nahe zahlreicher olympischer Sportstätten fällt buchstäblich den umfangreichen Baumaßnahmen, gierigen Investoren, überforderten Stadtplanern oder einfach nur gleichgültigen Spekulanten zum Opfer – und das alles im Zeichen der Ringe! © Philipp Lichtenbeck/MISEREOR

Sandra Maria de Souza ist arm. Ihr Haus liegt wenige Meter neben dem Olympiapark. Wenn es nach Carvalho und Paes ginge, dann stünde es schon lange nicht mehr. Genauso wenig wie die meisten der einst mehreren Hundert Häuser in Vila Autódromo. Sie wurden abgerissen, oft unter gewaltsamem Polizeieinsatz. Die Bewohner wurden umgesiedelt. Das wertvolle Land soll Spekulationsmasse werden. Insgesamt mussten in Rio de Janeiro seit 2009 rund 80.000 arme Menschen für Infrastrukturprojekte und Immobilienprojekte Platz machen. Nicht selten geschah dies unter Zwang, viele fanden sich in Sozialwohnungen am Stadtrand wieder.

Das Armenviertel Vila Autódromo gleicht heute einem Schlachtfeld. Außer Sandra de Souzas Heim und einigen anderen vereinzelten Gebäuden ist nicht viel übrig geblieben von der Gemeinde, die in den Sechzigerjahren als Fischersiedlung entstand. Doch trotz der Verwüstung: Sandra de Souza will nicht gehen. Sie lässt sich weder von Gewalt einschüchtern noch von den immer höheren Entschädigungszahlungen verführen, die ihr das Rathaus anbietet. „Es ist eine Frage der Würde“, sagt sie. „Wir sind arm, aber wir haben dies hier aufgebaut. Es ist unsere Heimat.“ Sie setzt nun auf das Versprechen des Bürgermeisters, der zuletzt – des Konflikts müde – versprach, dass Vila Autódromo im Kleinen neu aufgebaut würde. Daran glauben nicht viele Beobachter. Zu oft hat Eduardo Paes schon gelogen. Zwar entstehen in Rio im Zuge der Olympischen Spiele wichtige Infrastrukturprojekte. So wird die U-Bahn in Richtung des Olympiaparks erweitert. Schnellbustrassen wurden durch die Stadt geschlagen. Im Businesszentrum wird eine neue Straßenbahn fahren, die auch das heruntergekommene Hafenviertel bedient, das an vielen Stellen revitalisiert wird.

„Aber das alles hat nichts mit den Spielen zu tun“, sagt Frederic Mallrich. „Das hätte die Stadt sowieso machen müssen.“ Mallrich ist paralympischer Ruderer. Er sagt, dass er sich wünschte, die Spiele würden woanders stattfin-den. „Zu wenige Verbesserungen, zu viele Unannehmlichkeiten“, sagt er. Mallrich kann schon bald nicht mehr trainieren, weil das Ruderstadion an der Lagune Rodrigo de Freitas renoviert wird, ohne dass die Stadt Ausweichmöglichkeiten für Sportler schafft, die keine Sponsoren haben. Dazu gehören viele paralympische Sportler. Außerdem wird der Betrieb des Stadions privatisiert und von der Familie Marinho übernommen, Herrin über den allmächtigen Medienkonzern Globo.

Frederic Mallrich wäre froh über sauberes Wasser

Er träumt nicht nur von einer Medaille. Frederic Mallrich wäre schon froh, wenn er vernünftig trainieren könnte. Er ist einer von über 4.500 Teilnehmern der XV. Paralympics, die vom 7. September an stattfinden und in 22 Sportarten ausgetragen werden. © Philipp Lichtenbeck/MISEREOR

RUDERN IN DER KLOAKE?

Mallrich nennt ein weiteres Versäumnis, vielleicht das größte: Vor den Spielen hatte man versprochen, die Lagune Rodrigo de Freitas sowie die riesige Guanabara-Bucht zu säubern, auf der die Segelwettbewerbe stattfinden. Doch immer noch sind beide Gewässer so dreckig wie zuvor. Insbesondere die Bucht gleicht immer noch einer Kloake. Von einer integrativen Kraft der Spiele kann bisher keine Rede sein. Laut einer Umfrage steht mehr als die Hälfte der Brasilianer den Spielen gleichgültig gegenüber. Nur jeder vierte sagt, die Spiele brächten einen Fortschritt für die Bevölkerung. 59 Prozent glauben, dass viel Geld in dunklen Taschen verschwunden sei. Die „besten Spiele aller Zeiten“? Daran glaubt zur Zeit wohl nur einer: Rios Bürgermeister Paes.

Über den Autor: Philipp Lichterbeck lebt als freier Korrespondent in Rio de Janeiro. Er berichtet vor allem über südamerikani- sche Themen u. a. für DIE ZEIT, FAZ, NZZ, Tagesspiegel u. a. Tageszeitungen, Zeit- schriften und Magazine. Für Arte war er Co-Autor verschiedener Dokumentationen, zuletzt erschien sein karibischer Reiseführer „Das verlorene Paradies“.


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… über das Bündnis „Rio bewegt. Uns. – Mehr als nur dabei sein.“

MISEREOR engagiert sich gemeinsam mit an- deren kirchlichen und sozial tätigen Organi- sationen sowie dem deutschen olympischen Sportbund und dem Behindertensportver- band im Bündnis „Rio bewegt. Uns.“ Die Kam- pagne setzt sich dafür ein, den Blick auch auf die Bewohner von Rio de Janeiro im Um- feld der Olympischen und Paralympischen Spiele zu lenken und sich für ihre Teilhabe an einem menschenwürdigen Leben einzu- setzen. Dazu gehört, dass einzelne Bevölke- rungsgruppen nicht wegen der Spiele diskri- miniert werden – sei es durch Vertreibung oder Verdrängung, sei es durch Sicherheits- zonen rund um die Austragungsorte ohne Zugangsmöglichkeiten.

Die Kampagne erinnert an die olympischen Werte und ruft zu Fairness, Frieden, Nachhal- tigkeit, Leistung und Hoffnung auf. Hierfür sollen wir uns auch in Deutschland einset- zen: Gruppen, Verbände, Schulen und Verei- ne sind aufgerufen, aktiv zu werden und Sponsorenläufe oder Aktionsspiele zu orga- nisieren. Damit sollen auch Projekte in Rio de Janeiro unterstützt werden, in denen be- nachteiligte Kinder und Jugendliche durch Sport und Spiel Teamspirit und dank Bil- dungsangeboten auch Zukunftsperspektiven für ihr Leben entwickeln. Informationen und Angebote rund um die Kampagne helfen dabei, diese Ziele umzusetzen.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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