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Die Sozial- und Umweltenzyklika: Eine gerechtere Welt ist möglich

Seit einem Jahr wirbelt das päpstliche Lehrschreiben Laudato si’ nun schon Staub auf. Weltweit werden Franziskus‘ Thesen überraschend wohlwollend diskutiert. Dabei haben sie es in sich. – Was drin steht und was drin steckt.

MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel traf Papst Franziskus im Februar 2016. Foto: KNA

MISEREOR-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel traf Papst Franziskus im Februar 2016. Foto: KNA

Ein Beitrag von Markus Büker

Am 18. Juni 2015 hat sich Papst Franziskus mit der Enzyklika Laudato si’ in der internationalen Diskussion über die multiplen Krisen unserer Zeit eindrucksvoll zu Wort gemeldet. Die Sorge für das gemeinsame Haus treibt den Papst um: die Sorge um das würdige Leben aller Menschen, der heutigen und der zukünftigen sowie der fehlende Respekt vor den Grenzen der Erde. Der Kurs der Menschheit erscheint ihm selbstmörderisch. Die Menschheit verspielt das Geschenk der Schöpfung, das ihr nach christlicher Auffassung von Gott in Freiheit überlassen wurde. Deswegen auch die Wahl des Titels Laudato si‘ – Gelobt seist Du, Gott, der Schöpfer. Denn alles, was ist, entsteht nicht aus sich selbst, sondern verdankt sich einem anderen, in religiöser Sprache „Schöpfer“ genannt, aus dem alles hervorgeht.

Die Vorschläge des Papstes zur Kursänderung haben es in sich – wie die Publikation „Anstiftung zur Rettung der Welt“ anhand der Beispiele Klimawandel, Ernährung und Stadtentwicklung zeigt.

Kernbotschaft: Armuts- und Umweltfragen gehören zusammen

Milliarden Menschen leiden Not, die Erde und die natürlichen Lebensbedingungen für die kommenden Generationen sind der Zerstörung preisgegeben: „So beeinträchtigt zum Beispiel die Erschöpfung des Fischbestands speziell diejenigen, die vom handwerklichen Fischfang leben und nichts besitzen, um ihn zu ersetzen; die Verschmutzung des Wassers trifft besonders die Ärmsten, die keine Möglichkeit haben, abgefülltes Wasser zu kaufen, und der Anstieg des Meeresspiegels geht hauptsächlich die verarmte Küstenbevölkerung an, die nichts haben, wohin sie umziehen können.“ (LS 48) Verursacht wird dies durch unsere Produktionsweisen, die Wirtschafts- und Finanzbeziehungen, durch die Funktionsweisen der Politik und durch das übersteigerte Konsumverhalten von immer mehr Menschen.

Deswegen ist es Aufgabe der Kirche(n) wie der gesamten Menschheit, Armut und Umweltzerstörung als Zusammenhang zu denken und die Ursachen endlich entschieden anzugehen. Die Überwindung der Armut in all ihren Formen und der Schutz der Umwelt sind untrennbar verbunden. Dabei sind es vor allem wir, die Menschen in den industrialisierten Ländern, und die Wohlhabenden dieser Welt, die weit über dem Niveau leben, das die Erde aushält. In diesem Sinne ist Laudato si’ eine Sozial- und Umweltenzyklika.

Aufruf zur ökologischen Umkehr

Mit kleinen Veränderungen hier und da ist es für den Papst nicht mehr getan. Er schlägt eine grundsätzliche Abkehr von gescheiterten Entwicklungs- und Wirschaftsmodellen und eine neue Definition von Fortschritt vor (LS 194). Dabei hat der Papst keine letzten Wahrheiten zur Ökologie zu verkündigen, sondern ruft aus Sorge um die Hungernden und die Umwelt  die Menschen zum Umdenken und Mittun auf. So ist das Dokument ein Angebot zum Dialog. Es brauche „ein Gespräch über die Art und Weise, wie wir die Zukunft unseres Planeten gestalten“ (LS 14). Nicht mehr eine Religion, ein Staat oder eine internationale Organisation kann die Probleme der Welt lösen. Es geht nur in der Kooperation aller. Der Papst richtet sich an jeden Menschen guten Willens, unabhängig von Religion und Weltanschauung (LS 3). In einer Zeit, in der in Europa die Zusammenarbeit immer schwieriger wird und weltweit mehr und mehr Staaten auseinanderfallen, ist das ein ambitioniertes Anliegen. Es basiert auf dem Vertrauen in die Kraft des menschlichen Geistes, nicht blind den vorgegebenen Strukturen oder Interessen anderer ausgeliefert zu sein. Dabei ist dem Papst bewusst, dass die Widerstände in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft groß sind. Seinen viel diskutierten Satz „Diese Wirtschaft tötet“ illustriert er ganz praktisch (LS 48).

Ebenso sei es die weitverbreitete Gleichgültigkeit vieler einzelner, die zur aktuellen Krisensituation führe. In all dem ist die Position des Papstes parteiisch. Er nimmt die globalen Herausforderungen aus der Perspektive der „Armen“ wahr: Er hört den Schrei der Armen und den Schrei der verletzten Erde (LS 49).

Eine neue Art der Zusammenarbeit

Seit Jahrzehnten gab es an der Basis der Kirche weltweit Sozial- und Umweltbewegungen. Nicht selten in ökumenischer Trägerschaft. Die Päpstliche Akademie der Wissenschaften hat im Mai 2014 mit der Anhörung von Expert(inn)en aus aller Welt zu den zentralen globalen Herausforderungen nochmals die wichtigsten Ergebnisse für die Enzyklika  zusammengetragen. Franziskus hörte sich zudem die Stimmen Betroffener und von Bischöfen an. Christlicher Glaube und Wissenschaft kommen für den Papst in der Überzeugung zusammen, dass alles mit allem zusammenhängt. Alles, was existiert, hat einen Wert in sich. Als Geschöpf ist der Mensch Teil eines vernetzten Systems – und zwar der Natur (LS 92). Mit der Veröffentlichung am 18. Juni 2015 hat der Papst bewusst ein politisches Momentum genutzt. Er präsentierte die Enzyklika vor wichtigen internationalen Weichenstellungen. Die Ergebnisse lassen vermuten, dass Franziskus‘ Botschaft und die anderer Religionsführer nicht ungehört verhallten: Auf der G7-Tagung in Elmau/Deutschland Anfang Juni hatten  die wichtigsten Industrieländer schon den langfristigen Kohleausstieg beschlossen. Im September hat die Weltgemeinschaft dann in New York mit der Agenda 2030 17 Nachhaltige  Entwicklungsziele – „Sustainable Development Goals“ – beschlossen, die erstmals für Industrie- und Entwicklungsländer gleichermaßen gelten. Krönender Abschluss des  „Entwicklungsjahres 2015“ war im Dezember in Paris die Verständigung auf ein neues internationales Abkommen zum Klimaschutz.

Wie weiter?

Für die „ökologische Umkehr“ braucht es neben technologischem Fortschritt vor allem einen sozialen, ethischen und kulturellen Wandel in Richtung Gemeinwohl. Dieser wird strukturelle politische sowie wirtschaftliche Konsequenzen haben und bedingt auch eine Veränderung individueller ressourcenintensiver Lebensstile. Dabei sind Veränderungen im Plural nötig. Es gibt sie bereits, sie werden aber aus Interessen des Machterhalts ausgebremst (LS 104). Daran zu arbeiten ist die zentrale Aufgabe für Christinnen und Christen, für Kirche(n) heute. Das wird umso eher gelingen, wenn sie eine ökologische Spiritualität entwickeln, die zum Wandel anstiftet und ihm Richtung gibt.

Die Kirche in Deutschland ist aufgerufen, in ihren eigenen Reihen die Impulse des Papstes zu diskutieren und Konsequenzen zu ziehen. Die Palette ist breit. Sie schließt energieeffizientes Gebäudemanagement, nachhaltige Finanzanlagen, ökosoziales Beschaffungswesen und Mobilitätsverhalten ein. Obwohl Bischöfe und Kirchenverwaltungen in diese Richtung aufbrechen, gibt es vor Ort auch zahlreiche Widerstände. Das Neue muss sich beharrlich gegen althergebrachte Gewohnheiten behaupten. Wie steht es darüber hinaus mit kirchlichem Engagement für eine wirkliche Energiewende, für eine nachhaltige bäuerliche Landwirtschaft? Wie mischt sich Kirche bei der Stadtentwicklung angesichts der zu  erwartenden Neubauten für sozial Benachteiligte und die ankommenden Flüchtlinge ein?

Mit Laudato si’ geht es um eine Neupositionierung der Kirche in der Gesellschaft, in Distanz zu den bestimmenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen. Das Eintreten der Kirche(n) für die Rechte der Flüchtlinge und Migrantinnen gibt eine Idee von den politischen Kosten, den sie für die Verwirklichung des Evangeliums an der Seite der „Armen“ zu tragen haben. – Wir leben in spannenden Zeiten.

Anmerkung: Die Nummern in den runden Klammern hinter den Zitaten aus der Enzyklika Laudato si’ beziehen sich nicht auf Seitenzahlen, sondern auf die durchnummerierte Abschnittszählung im Text, unabhängig von der jeweiligen Ausgabe.

 

Neue Publikation „Anstiftung zur Rettung der Welt“ lesen oder bestellen

Die MISEREOR-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen Markus Büker, Anja Mertineit, Almuth Schauber und Stefan Tuschen erläutern in der neu erschienenen Broschüre „Anstiftung zur  Rettung der Welt“ die Grundideen der Enzyklika anhand der Themen Klima, Ernährung und Stadtentwicklung.

Hier die neue Broschüre herunterladen oder bestellen

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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