Ihr Schicksal sorgte weltweit für große Anteilnahme: 2014 waren in Nigeria Schülerinnen von Mitgliedern der islamistischen Terrororganisation Boko Haram brutal verschleppt und regelrecht versklavt worden. Die Mädchen wurden Opfer von Zwangsverheiratung und Vergewaltigungen. Das brutale Vorgehen von Boko Haram in Nigeria ist kein Einzelfall. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, aber auch gegen Männer wird in vielen Konflikten und Kriegen weltweit gezielt und systematisch eingesetzt. Die Massenvergewaltigungen von Frauen während der Bürgerkriege im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda, aber auch aktuell in der Krise im Nahen Osten zeigen, dass sexualisierte Gewalt als Mittel der Kriegsführung mittlerweile eine erschreckende Dimension angenommen hat.
Die Vereinten Nationen haben 2015 den 19. Juni zum Internationalen Tag für die Beseitigung sexueller Gewalt in Konflikten ausgerufen, um die Weltöffentlichkeit auf dieses grausame Verbrechen aufmerksam zu machen. Anne Scharrenbroich, MISEREOR-Bildungsreferentin erklärt, was getan werden kann und muss, um ‚sexualisierte Gewalt als Mittel der Kriegsführung‘ zu beenden, zumindest aber erheblich einzudämmen.
Frau Scharrenbroich, sexualisierte Gewalt wird in vielen Konflikten weltweit systematisch eingesetzt. Worauf zielen diejenigen, die solche Verbrechen anordnen bzw. begehen?
Anne Scharrenbroich: Wenn sexualisierte Gewalt wie zum Beispiel Massenvergewaltigungen als Kriegsstrategie, als Machtmittel und somit als Kriegswaffe eingesetzt wird, trifft diese nicht nur die Opfer, sondern zerstört große Teile einer Gesellschaft. Entweder geben die Befehlshaber einer Kriegspartei entsprechende Anweisungen oder sie lassen ihre Soldaten sehenden Auges gewähren, die gegnerische Zivilbevölkerung – also Frauen, aber auch Männer und Kinder – systematisch zu vergewaltigen, zu verstümmeln oder sexuell zu versklaven. Das dient vor allem dazu, Terror zu verbreiten, die eigenen Kämpfer zu verrohen und den Feind zu demoralisieren und zu entehren.
Was bedeutet das für die betroffenen Frauen und ihr Umfeld?
Die Frauen sollen und werden durch solche menschenverachtenden Praktiken entwürdigt und oftmals körperlich, aber auch psychisch zerstört. Wenn dann auch noch Kinder oder andere Beteiligte gezwungen werden, solche Gräueltaten mit anzusehen, weil sie zum Beispiel auf dem Marktplatz stattfinden, dann kann man davon ausgehen, dass dies nicht nur die daran beteiligte Generation einer Gesellschaft zerstört, sondern sich eine solche Traumatisierung auch noch über die nächsten Generationen fortsetzt. Deshalb steigt die Zahl der Vergewaltigungen nach Beendigung eines Konflikts in der Regel auch noch einmal an, aufgrund einer tiefgreifenden Verrohung der Gesellschaft, aber auch, weil Opfer selbst zu Tätern werden. Auf Gewalt folgt Gewalt, in diesem Falle sexualisierte Gewalt.
Auch wenn sexualisierte Kriegsgewalt ohne Zweifel immer noch überwiegend an Frauen begangen wird, finde ich es wichtig zu verstehen, dass es ein Thema ist, das die ganze Gesellschaft trifft. Ohne klare Grenzen auf Täter- und auf Opferseite. Häufig wird Soldaten zum Beispiel unter Androhung der Todesstrafe die Vergewaltigung von Frauen und Kindern befohlen.
Was kann oder sollte getan werden, um diese menschenverachtenden Praktiken einzudämmen?
Eine Herausforderung ist zum Beispiel, die überwiegende Straflosigkeit in diesem Bereich zu beenden. Sexualisierte Kriegsgewalt ist wie alle Formen der sexualisierten Gewalt oft umgeben von Schweigen und Tabuisierung. Und die schwer traumatisierten Opfer werden zusätzlich vielerorts stigmatisiert und ausgegrenzt – Frauen wie auch Männer. Sie sollten aus der Unsichtbarkeit herausgeholt werden. Eine Enttabuisierung durch entsprechende Forschung könnte die Diskussion anstoßen, wer Opfer und wer Täter ist und wie die gesellschaftlichen Folgen dieses Phänomens aufgefangen werden können.
Wo liegen weitere Herausforderungen?
Große Herausforderungen liegen im Bereich der Ermittlungen und der Rechtsprechung: Juristische Verfahren haben leider oft den Effekt, dass sie die sozialen Beziehungen weiter auseinandertreiben, statt den Ursachen der Gewalt auf den Grund zu gehen und einen Beitrag zur Heilung zu leisten. Zudem müssen praktikable Methoden geschaffen werden, die einem Klima der Strafffreiheit, das weiteren Menschenrechtsverletzungen Vorschub leistet, entgegenwirken. Mit anderen Worten: Es braucht auf die jeweilige Region und Kultur abgestimmte, juristische Ansätze, die die psycho-soziale Situation der Opfer – und Täter – sowie der gesamten Gemeinschaft berücksichtigen. Denn in dieser Gemeinschaft müssen ja alle künftig weiter gemeinsam leben.
Was fordert MISEREOR?
Aus MISEREOR-Sicht wäre es wichtig, dass Deutschland sich auf internationaler Ebene auch im Rahmen der Agenda 2030 für dieses Thema stark macht. Ziel 16 der Nachhaltigen Entwicklungsziele besagt klar, dass nachhaltige Entwicklung nicht ohne Frieden und Stabilität möglich ist.
Welche Rolle sollten Frauen in Zukunft in internationalen Friedensprozessen spielen, um sexualisierter Gewalt als Mittel der Kriegsführung entgegenzuwirken?
In Deutschland und auf internationaler Ebene wird in der Sicherheits- und Entwicklungspolitik zu oft übersehen, dass Männer und Frauen und somit die ganze Gesellschaft, davon profitieren, wenn Frauen an Friedensverhandlungen stärker beteiligt werden. Laut „UN Women“ erhöhen sich bei Verhandlungen zu Waffenruhen oder Friedensvereinbarungen die Erfolgschancen, wenn Frauen beteiligt sind.
Frauen leisten bereits bedeutende Arbeit in Friedensverhandlungen und in der Lösung von gewaltsamen Konflikten, aber wie wir aus der gemeinsamen Arbeit mit unseren Projektpartnern wissen, passiert dies meist nur vor Ort an der Basis und nicht am politischen Verhandlungstisch auf höheren Ebenen.
Wie ist da die deutsche Position?
Auch Deutschland tut sich bei diesem Umdenken sehr schwer. In der bereits im Jahr 2000 verabschiedeten UN-Resolution 1325 werden Konfliktparteien dazu aufgerufen, die Rechte von Frauen zu schützen und Frauen gleichberechtigt in Friedensverhandlungen, Konfliktschlichtung und den Wiederaufbau mit einzubeziehen. Ein Nationaler Aktionsplan zu dieser frauen- und friedenspolitischen Resolution wurde in Deutschland noch im Jahre 2011 von den Regierungsparteien abgelehnt und konnte nach langem Widerstand erst 2012 für Deutschland verabschiedet werden. 12 Jahre nach der Verabschiedung der Resolution!
Auf der Flucht sind Frauen und Mädchen besonders der Gefahr sexualisierter Gewalt ausgesetzt. Auch dann noch, wenn sie in sogenannten sicheren Ländern angekommen sind. Welche Anstrengungen unternimmt hier die deutsche Politik, um diese Frauen zu schützen?
Die deutsche Politik schützt die bei uns ankommenden Frauen und Mädchen nicht genügend. Vor allem fehlt es oft an ausreichender psychosozialer Begleitung. Es besteht die Gefahr, dass Traumata durch sexualisierte Gewalt an die Kinder und damit an die nächste Generation weitergegeben werden. Das wird oft übersehen. In dem im Februar 2016 verabschiedeten Asylpaket II stehen in diesem Zusammenhang nur schwammige Formulierungen, die den oftmals traumatisierten Frauen und Kindern keine Sicherheit geben: Keinen Schutz, um zur Ruhe zu kommen, keinen Schutz vor weiteren gewalttätigen Übergriffen.
Was wäre hier wünschenswert?
Aus MISEREOR-Sicht wäre ein deutschlandweites, verbindliches Schutzkonzept für besonders gefährdete Flüchtlinge dringend erforderlich. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit! Wir alle in Deutschland wollen Frauen und Kinder bestmöglich schützen. Aber in der Debatte um das Asylpaket II wurde ein solcher Schutz mit entsprechenden Maßnahmen plötzlich als „Luxus“ betitelt. Das finde ich mehr als bedenklich.
Was tun MISEREOR-Partner vor Ort?
Viele Projektpartner von MISEREOR in Asien, Afrika und Lateinamerika sind in ihrer täglichen Arbeit direkt mit den gravierenden Folgen dieser menschenverachtenden Kriegsstrategie konfrontiert, etwa weil sie sich als Ärztinnen und Ärzte, in der Krankenpflege, als Psychologen und Psychologinnen oder als Lehrerinnen oder Juristen für die Opfer und ihre Familien engagieren. Eine wichtige Aufgabe in den Projekten ist die Aufklärungsarbeit. Es ist wichtig, dass vor Ort, in den Dörfern auf die Problematik und die Notwendigkeit der Auseinandersetzung damit aufmerksam gemacht wird. Und dass auch und gerade die Männer von der gesellschaftlichen Wichtigkeit überzeugt werden. Besonders spannend und zukunftsweisend finde ich unser Pilotprojekt zur Entwicklung konfliktsensibler Rechtsverfahren in Burundi, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo. Hier versucht unsere Partnerorganisation IAPI, genau das zu implementieren, was ich vorhin erwähnt habe, nämlich rechtliche Verfahren, die neben der juristischen Aufklärungsarbeit auch die Heilung der Betroffenen und der Beziehungen in der Gemeinschaft im Blick haben.
Mehr Informationen…
Kamerun: Die Flucht vor Boko Haram – Blogbeitrag von Rebecca Struck