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Brasilien: Wir alle sind Betroffene!

Ein Jahr ist seit dem Verbrechen durch das Bergbaukonsortium Samarco/ Vale/ BHP Biliton in Brasilien vergangen. Es gilt als die größte Umweltkatastrophe in der Geschichte des Landes. Aufklärung, Unterstützung der Betroffenen, Präsenz des Staates? Fehlanzeige.brasilien-wir-alle-sind-betroffene-4

Am Nachmittag des 5. November 2015 brach der Damm eines Rückhaltebeckens im Minenkomplex Germano im Bezirk Mariana im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais. Geschätzt 50 Millionen Kubikmeter hochgiftiger Abraum (ausreichend, um ein bekanntes Fußballstadion in München 17 mal bis unters Dach zu füllen!) durchbrachen in der Folge einen weiteren Damm und vermischten sich mit großen Mengen Wasser zu einer Schlammlawine. Diese machte nahezu den gesamten Ort Bento Rodrigues dem Erdboden gleich und richtete in weiteren Ortschaften große Zerstörung an. 19 Menschen wurden getötet – Bewohner und Angestellte von Samarco. Die Schlammmassen vergifteten Flüsse im gesamten Einzugsgebiet des Rio Doce und erreichten 17 Tage nach dem Dammbruch den Atlantik –mehr als 650 km entfernt! Flussanrainer bis zur Mündung im Atlantik, Familien, die vom Fischfang oder der Landwirtschaft lebten, aber auch die Minenarbeiter/-innen und Stadtbewohner/-innen, die von der Präsenz Samarcos profitierten – von einen auf den anderen Moment wurde ihre Lebensgrundlage komplett zerstört.

„Die Tragödie von Mariana ist ein Verbrechen!“

Warum? Einige Beispiele: Als wir am Jahrestag die Straße hinab nach Bento Rodrigues marschieren, steht am Rand ein Schild mit der Aufschrift: Bei Sirenenalarm Bereich evakuieren. Einen solchen Alarm hat es am 5. November 2015 nicht gegeben.

Die Polizei von Barra Longa, einer Ortschaft am Rio do Carmo (der in den Rio Doce mündet), hat nach dem Dammbruch die Firma Samarco angerufen, um zu erfahren, welche Gefahr für die Ortschaft bestünde. Die Antwort lautete: Die Lawine wird den Ort unter keinen Umständen erreichen. Die Polizei hat daraufhin via Radio die Einwohner informiert und Entwarnung gegeben. Die Menschen waren zum Glück misstrauisch und wachsam: Noch bevor sich der Schlamm in der Nacht durch die Stadt schob und das Zentrum komplett verwüstete, kündigte sich die Lawine mit einem stechenden Eisengeruch an.brasilien-wir-alle-sind-betroffene-8

Untersuchungen haben ergeben, dass einer der Gründe für den Dammbruch eine erhöhte Produktion und damit größere Abraummenge war. Aufgrund des Preisverfalls von Eisenerz hatte Samarco die Förderung erhöht und auch Abraum aus anderen Minen auf die Halde gebracht, die dann abrutschte.

Viel Aufmerksamkeit für Mariana

Rund um den Jahrestag hat die Bewegung für von Staudammbauten Betroffene (Movimento dos Antigidos por Barragens, MAB) ein großes Treffen in Mariana organisiert. Dieses war auch das letzte Zwischenziel einer Karawane, die sich an der Atlantikküste in Bewegung gesetzt und entlang der vergifteten Flüsse die Betroffenen besucht und Vertreter/-innen mit nach Mariana gebracht hatte. „Wir haben uns bewusst für Mariana entschieden“ erklärt mir der Koordinator für die MAB-Projekte im Bundestaat Minas Gerais. Mariana bekommt viel Aufmerksamkeit in den Medien und seitens der Firma Samarco. In Mariana habe sie viel unternommen, isoliert und sehr punktuell. Je weiter man der Spur des Verbrechens Richtung Atlantik folgt, desto geringer werden diese Aktivitäten. Das Treffen endete mit einem Marsch nach Bento Rodrigues am 5. November.brasilien-wir-alle-sind-betroffene-7

„Auch Mariana ist betroffen“ lese ich auf einem Banner in der Stadt. Viele Menschen hier haben ihre Arbeitsplätze verloren, die Stadt einen Großteil ihrer Steuereinnahmen. Eine Mehrheit wünscht sich, dass der Bergbaukonzern seine Tätigkeiten wieder aufnimmt. Die MAB ist in Mariana nicht gerne gesehen, hat hier kaum Anhänger. Um mit diesen Menschen in den Dialog zu kommen, auch deshalb habe man sich für Mariana als Ort für das Treffen entschieden.

Zwielichtige Machenschaften

Ein Slogan der MAB ist „Somos Todos Atingidos“ – wir alle sind Betroffene. Während Samarco zwischen direkt und indirekt geschädigten unterscheidet – mit Blick auf die MAB bewusst von „afectados“ und nicht „atingidos“ spricht – und diese entsprechend unterschiedlich entschädigt, macht MAB diese Unterscheidung nicht. Ein wichtiges Anliegen der Bewegung ist, die Regierung in Brasilia und den Konzern Samarco – ein Joint Venture des brasilianischen Bergbauunternehmens Vale und des britisch-australischen BHP Biliton – zur Einhaltung seiner menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten zu bewegen und den Betroffenen zur Wahrung ihrer Rechte zu verhelfen. MAB möchte z.B. erreichen, dass die Entschädigungen kollektiv ausgehandelt werden.brasilien-wir-alle-sind-betroffene-9

Auf Basis einer Vereinbarung zwischen der Zentralregierung und dem Konzern Vale wurde eine Stiftung ins Leben gerufen, die mit der Entschädigung der Opfer beauftragt ist. Obwohl diese Vereinbarung vom Ministerium für öffentliche Angelegenheiten des Bundesstaates Minas Gerais für nichtig erklärt wurde, hält der Konzern daran fest. Die Mitarbeitenden der Stiftung kommen überwiegend von Samarco selbst, einige wenige aus dem Regierungsumfeld . Ganz außen vor sind die Betroffenen selbst. „Das ist absurd“, sagt der MAB-Koordinator. „Das ist, als würdest du den Verbrecher mit der Sorge um sein Opfer beauftragen.“ So hat die Stiftung z.B. in Barra Longa, 40 Haushalte als betroffen klassifiziert und diese mit Bankkarten ausgestattet. Über diese Karten erhalten sie eine monatliche Entschädigung. „Als wir von der MAB genauer recherchiert haben, wer Anspruch auf diese Entschädigung hat, sind wir auf 200 Haushalte gekommen!“ sagt der Koordinator. Der Konzern setze bewusst auf individuelle Entschädigungen. Gezielt würden Gemeindevorsteher und Wortführerinnen großzügig entschädigt, um die Proteste zu demobilisieren. Gleichzeitig wird MAB von Vale dafür verantwortlich gemacht, das die Entschädigungen sich verzögern.

Auf dem Treffen in Mariana findet in einer Sportarena statt. Mit Bussen sind die Teilnehmenden aus vielen Regionen angereist, überwiegend aus den 41 betroffenen Distrikten der beiden Bundestaaten Minas Gerais und Espiritu Santo. Ihre Nachtlager haben sie auf den Zuschauerrängen aufgebaut. Für die Mahlzeiten hat jede und jeder einen Becher, einen Teller und Besteck mitgebracht hat.brasilien-wir-alle-sind-betroffene-2

Über zwei Tage gibt es Vorträge, Analysen, internationale Solidaritätsbekundungen und Musik. Auch die Betroffenen kommen zu Wort. Einer berichtet, dass ihm Geld angeboten wurde, damit er nicht am Treffen der MAB in Mariana teilnimmt. Diese Machenschaften bestätigen mir Vertreter der MAB, die unsere Gruppe internationaler Gäste (aus den USA, Kanada, Schweden, Spanien, Deutschland u.a.) während des Treffens begleiten. Nicht wenige der Betroffenen seien nicht nach Mariana gekommen, weil Samarco sich ausgerechnet für dieses Wochenende angekündigt habe, um mit den Menschen über die Entschädigungen zu sprechen.

Am 5. November setzen sich mehr als zehn Reisebusse und diverse PKW von Mariana in Richtung Bento Rodrigues in Bewegung. Einige hundert Meter vor der Ortschaft müssen die Busse zurück bleiben, da die Kurven hinab ins Tal zu eng sind. Ein Meer aus Bannern und Fahnen setzt sich in Bewegung. Je weiter wir in das Tal hinabmarschieren, vorbei an verlassenen Häusern, desto klarer wird das Bild der Zerstörung: An den Häuserwänden ist deutlich zu sehen, bis wo hin der rote Schlamm anstieg. Irgendwann verschwindet diese Linie – der Schlamm reichte bis unters Dach, die Häuser im Zentrum des Ortes waren gar mehrere Meter tief im Schlamm versunken. Das Ausmaß der Lawine, die Menge des Abraumes –angesichts der Größe des Tales schier unfassbar. Genauso fassungslos macht die Tatsache, dass auch ein Jahr nach dem Verbrechen die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen werden und stattdessen mit juristischen Mitteln versucht wird, gegen Mitglieder der MAB vorzugehen.

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Stefan Tuschen arbeitet als Referent für Kolumbien bei MISEREOR.

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