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Wunsch statt Wirklichkeit – Abschiebung nach Afghanistan

In Afghanistan soll es sichere Provinzen geben – das ist ein Mythos. Die Abschiebungen in das Land sind unmenschlich. Ein Gastbeitrag von Martin Bröckelmann-Simon in der Frankfurter Rundschau (14.12.2016)

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Junge im Camp Charman e Babrak in Afghanistan. © Florian Sander/ MISEREOR

Die Zahl neu angekommener Flüchtlinge in Deutschland ist in diesem Jahr massiv zurückgegangen. Derweil fliehen weiter viele Menschen aus Afghanistan. Trotz erheblich erschwerter Bedingungen auf den Fluchtrouten gelangen sie auch zu uns. In Deutschland stellen sie aktuell die zweitgrößte Gruppe aller, die Antrag auf Asyl stellen. Nun aber ist gestern offenbar damit begonnen worden, 50 Geflüchtete aus Afghanistan von Deutschland aus zurück in ihre Heimat abzuschieben, unter ihnen sowohl freiwillige Rückkehrer als auch abgelehnte Asylbewerber. Weitere sollen bald folgen. Begründet wird dies damit, dass es, wie aus dem Bundesinnenministerium zu hören ist, „in Afghanistan Regionen gibt, in denen man sicher leben kann“.

Wer die Realität Afghanistans im Jahr 2016 kennt, ist angesichts einer solchen Zuschreibung irritiert. Offenbar wird aber, wohl in Anbetracht des hohen Anteils von Afghanen unter den Asylsuchenden in Deutschland und vor dem Hintergrund der 2015 deutlich gestiegenen Gesamtzahl aller zu uns Geflüchteten, nun etwas zur Realität erklärt, was anhaltende militärische und zivile Operationen sowie Finanzhilfen in Milliardenhöhe bislang nicht geschafft haben: Afghanistan zu einem zumindest in Teilen sicheren Herkunftsland zu machen. Vermag also die schiere Zahl der bei uns schutzsuchenden Menschen gepaart mit dem erkennbar großen politischen Wunsch, diese an „Obergrenzen“ anzupassen und „Handlungsfähigkeit“ zu zeigen, die Wirklichkeit so zu verändern, dass diese zum Wunsch passt?

Die in diesem Jahr deutlich gesunkene Anerkennungsquote von afghanischen Asylanträgen seitens des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bamf) deutet zumindest darauf hin, dass diesem Wunsch stattgegeben werden soll. Konsequent wird auch immer stärker die politische Forderung laut, Menschen jetzt vermehrt nach Afghanistan abzuschieben. Wunsch und Wirklichkeit passen aber dennoch nicht zusammen.

Nur noch in gepanzerten Fahrzeugen unterwegs

Die afghanische Alltagsrealität ist auch im Jahr 2016 weiterhin von extremer Unsicherheit geprägt – was vor allem schlecht ist für die Menschen, um deren Schutz und Sicherheit es ja geht: 2015 galt in Afghanistan bereits als das blutigste Jahr für Zivilisten seit Beginn entsprechender Aufzeichnungen, in 2016 setzt sich dieser Trend unverkennbar fort. Die UN-Mission für Afghanistan verzeichnete im ersten Halbjahr 2016 den höchsten Stand ziviler Opfer des bewaffneten Konflikts seit 2009: Durch den Bürgerkrieg starben demnach 1601 Menschen, 3565 wurden verletzt.

Inzwischen gibt es in 31 von 34 Provinzen Binnenvertriebene infolge von Gewaltkonflikten. In Kabul bewegen sich die allermeisten Ausländer nur noch in gepanzerten Fahrzeugen oder Helikoptern und schlafen in festungsähnlich ausgebauten Unterkünften. Angst vor Anschlägen und Entführungen ist also für alle sichtbar der tägliche Begleiter westlicher Ausländer.

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Martin Bröckelmann-Simon reiste 2016 selbst nach Afghanistan, um dort MISEREOR-Projekte zu besuchen, wie zum Beispiel das Schulprojekt OFARIN, in dem auch Mädchen lernen dürfen. © Florian Sander/MISEREOR

Um wie viel mehr muss der komplette Mangel an Sicherheit die Afghanen selbst treffen, insbesondere diejenigen, die durch Gewalt und Naturkatastrophen zu Vertriebenen im eigenen Land geworden sind? Deren Gesamtzahl schätzen die Vereinten Nationen auf aktuell 1,8 Millionen. Die UN schlugen schon im September Alarm, weil sie bis zum Jahresende eine humanitäre Katastrophe befürchten. Denn derzeit werden infolge der unerwartet hohen Zahl von Rückkehrern aus Pakistan, die von dort aktuell forciert zurückgetrieben werden, vermehrt Hilfsbedürftige registriert. Viele sowohl der Zwangsrückkehrer aus Pakistan als auch der Binnenvertriebenen treibt es aus Angst vor den Taliban, den Terrorgruppen des sogenannten IS und aus purer Not in die Hauptstadt Kabul. Und deren Elendsgürtel wächst ohnehin. In ihre Heimatregionen können die wenigsten zurückkehren. Die Regierung in Islamabad hat alle Aufenthaltsgenehmigungen von Afghanen und afghanischstämmigen Familien in Pakistan zum Ende des Jahres 2016 für ungültig erklärt. 1,5 Millionen Afghanen, die sich zum Teil seit Jahrzehnten dort als Flüchtlinge aufhalten, würden damit ab Januar illegal im Land leben.

Der Krieg in Afghanistan verläuft so heftig wie lange nicht, und zu Gewalt und Tod gesellen sich ökonomische wie politische Perspektivlosigkeit. Viel zu wenig wurde für die Schaffung von Arbeits- und Ausbildungsplätzen getan, die derzeitige afghanische Regierung zeigt sich zerrissen und kaum handlungsfähig. Kein Land der Welt kennt länger als Afghanistan ein seit Generationen andauerndes Kriegsgeschehen, und kein anderes hat so viele Flüchtlinge hervorgebracht. Nach Prognosen des UN-Sicherheitsrats werden sich in nächster Zeit die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Taliban und afghanischen Sicherheitskräften weiter verschärfen.

Diese Gesamtsituation und die wachsenden Schikanen in Pakistan gegenüber den dort lebenden afghanischen Flüchtlingen werden den Druck auf die Menschen, jenseits der Grenzen ihres Heimatlandes Sicherheit zu suchen, gewiss nicht mindern. Es ist eine Illusion, zu glauben, der Druck der Verhältnisse, der seit Jahren Menschen aus Afghanistan in die Fremde treibt, würde dadurch nachlassen, dass man die Lage schönt. Deshalb sind Zwangsabschiebungen in einen solchen Alltag unverantwortlich und unmenschlich – und sie beruhen auf Wunschdenken, das an der Wirklichkeit nichts ändern wird. Jeder würde sich wünschen – die Afghanen zuallererst –, dass Afghanistan tatsächlich ein sicheres und Zukunft eröffnendes Land wäre. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Sie ist sehr grausam.

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Dr. Martin Bröckelmann-Simon war bis September 2021 Geschäftsführer für Internationale Zusammenarbeit und verantwortete die Entwicklungszusammenarbeit mit Partnern in Afrika, Naher Osten, Asien, Ozeanien und Lateinamerika.

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