Apokalyptische Botschaften fluten die Twitternachrichten. Unter #Aleppo drücken Syrer ihre Wut und Verzweiflung aus. Kriegsberichterstatter schildern Gefühle der Resignation und Ohnmacht. Aufgeben? Für Pater Firas Lufti kam das nie in Frage. Seit fünf Jahren harrt der Franziskanermönch in einem Konvent in Aleppo aus. In einem Altbau mit Einschusslöchern, ohne Heizung. Während die Menschen gerade aus Ost-Aleppo evakuiert werden, wartet Pater Firas Lufti im Westteil der Stadt auf sie, um ihnen Essen, Wasser und Medikamente zu geben. Bei ihnen zu sein. Ihnen zu vermitteln, dass es sich lohnt, weiterleben zu wollen. Misereor unterstützt ihn.
„Die Kälte? Ach, wissen Sie: Die macht mir nicht so viel aus. Heute scheint die Sonne. Der Himmel ist flirrend blau, fast türkisfarben – und wir haben acht Grad plus, nur nachts ist es jetzt immer frostig. Ich habe ein Dach über dem Kopf. Ich habe etwas zum Anziehen, und wir können Lebensmittel wieder in Supermärkten kaufen, ein paar haben geöffnet. Ich lebe in West-Aleppo und bin verantwortlich für vier Sozialzentren der Franziskaner. Ich weiß, dass viele Menschen bei Ihnen in Deutschland das vermutlich für eine verrückte Idee halten, aber ich möchte nicht gehen. Ich will hier bei den Menschen bleiben, die mich brauchen. Das ist meine Aufgabe.
Es gibt so viele Menschen, die noch eingeschlossen sind im Ostteil der Stadt. Die Feuerpause gestern, in der sich die Zivilisten aus der Stadt retten sollten, war viel zu kurz, erst seit heute können Krankenwagen in den Ostteil fahren und die Verwundeten versorgen. Hören Sie die Sirenen im Hintergrund? Aber so genau wissen wir nicht, wie das jetzt ablaufen soll. Viele Menschen haben Angst, dass sie festgenommen oder umgebracht werden, wenn die Soldaten in ihre Häuser kommen. Sie gelten ja als Terroristen. Auch die Kinder.
Wie es mir geht, wenn ich an die vielen Opfer denke? Ganz einfach: Ich habe aufgehört, die Toten zu zählen. Jeder einzelne, der umgekommen ist, war einer zu viel. Und welchen Glauben er hatte, spielt keine Rolle. Wenn ich Menschen etwas zu essen gebe, unterscheide ich ja auch nicht: Ist dieser Mensch nun Sunnit? Schiit? Muslim? Christ? Ich bin in Syrien geboren, in Homs, als Christ. Christen und Muslime haben hier lange friedlich zusammengelebt. Es tut mir weh, daran zu denken, dass das nicht mehr möglich ist.
Jedes Mal, wenn ich jemanden beerdigen muss, wird mein Herz schwer wie ein Klumpen Blei. Sind Kinder dabei, versuche ich, sie zum Lachen zu bringen. Niemand kann einen Krieg ohne kleine Momente der Freude überleben, und dafür bin ich da. Ich bete mit Menschen zusammen. Ab und zu singen wir. Und ich möchte ein Zentrum für Kinder gründen, wenn dieser Krieg vorbei ist. Irgendjemand muss den Menschen doch helfen, diese Erlebnisse zu verarbeiten, diese Kinder sind wie abgeschnitten vom Leben. Gelähmt und voller Angst. Sie in Deutschland sehen im Fernsehen Menschen ohne Arme und Beine. Flüchtlinge, die frieren und die in langen Schlangen über die Straßen laufen. Die tiefsten Wunden, die Kriege hinterlassen, sind unsichtbar.
Meine Eltern sind nach Deutschland geflohen, sie leben im Saarland. Es belastet mich, dass meine Mutter sich Sorgen um mich macht. Ich höre es an ihrer Stimme, wenn wir telefonieren, aber sie hat meine Entscheidung, in Aleppo zu bleiben, akzeptiert. Und sie fragt auch nie genauer nach, wie es mir geht, wir sprechen meistens über den Alltag. Über banale Dinge. Das Wetter zum Beispiel. Man darf dem Krieg nicht erlauben, jede Minute zu besetzen, sonst gewinnt er am Ende gegen das Leben.
Wir leben hier von Minute zu Minute. Von Stunde zu Stunde. In so einer Situation ärgert man sich nicht. Man weint kaum. Das wäre zu anstrengend. Hass führt nirgendwo hin, er vergiftet die Seele. Zuerst gibt es Morde, dann Hass, dann Rache, dann Vergeltung und dann wieder neue Morde – Syrien braucht diese Eskalationsschleifen nicht. Ich wünsche mir und meinem Land endlich, endlich Frieden.
Ich gebe niemanden die Schuld. Keinem Präsidenten. Keinem Soldaten. Keinem radikalen Islamisten. Und ich verurteile auch niemanden. Gerichtsprozesse machen nichts ungeschehen, Tote nicht wieder lebendig. Eine wichtige Lehre des Christentums ist, dem Feind verzeihen zu können. Zu vergeben. Weil man selbst damit besser leben kann. Wie sollen wir hier im Nahen Osten denn sonst jemals wieder zusammenleben?
Jetzt ist es Zeit, Opfer zu bergen. Verwundete zu verarzten. Später, wenn alles vorbei ist, müssen die Verantwortlichen dann vor ein Tribunal. Aber jetzt? Da spielt das doch noch gar keine Rolle.
Ob ich an Gott glaube? Natürlich, was für eine Frage. Mein Glaube hilft mir. Ich weiß nicht, ob ich morgen noch lebe. Oder übermorgen. Aber jetzt, heute, in dieser Stunde, in dieser Minute, in der ich mit Ihnen telefonieren darf, empfinde ich Dankbarkeit. Dafür, dass mich keine Bombe zerfetzt, keine Kugel getroffen hat.“
Pater Firas Lufti ist Syrer. Er ist 41 Jahre alt und wurde in Hama geboren. Von 2004 bis 2011 lebte er in Aleppo. 2014, nach einem Aufenthalt in Rom, kam er nach Syrien zurück.
Von Isabella Hoffinger (Bündnis Entwicklung Hilft)