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Madagaskar: Die Pest ist noch da

Madagaskar? Ist das nicht jenes Land, vor dessen Küste einem alten Gassenhauer zufolge ein Segelschiff „mit der Pest an Bord“ vor Anker lag? Wem auch immer man etwas über die 400 Kilometer vom afrikanischen Festland entfernte Insel erzählt: Das erwähnte Volkslied kennt fast jeder. Und sonst? Da wissen die wenigsten weitere Einzelheiten. Etwa, dass Madagaskar nach Indonesien der flächenmäßig zweitgrößte Inselstaat der Welt ist. Und gleichzeitig zu den ärmsten Ländern der Erde zählt. Ach übrigens: Die Pest ist in Madagaskar alles andere als ein Problem aus grauer Vorzeit. Von der Seuche ist global gesehen kein Gebiet stärker betroffen als die Insel im Indischen Ozean. Und es ist nicht die einzige ernsthafte Schwierigkeit, unter der dieser Staat zu leiden hat.

Diese Dorfbewohner klagen über den Verlust ihrer Ackerflächen, auf denen nun ein Großkonzern Pflanzen für die pharmazeutische Industrie anbaut. Foto: Kopp/MISEREOR

Nähern wir uns also diesem Land an, das in seinen Nöten und Krisen von der Weltgemeinschaft offenkundig nur wenig beachtet wird. Von den mehr als 23 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern haben 92 Prozent weniger als zwei Dollar am Tag zur Verfügung. „Insbesondere die Bevölkerung auf dem Lande leidet unter Hunger“, sagt Andriamasinoro Bangomalala, eine Vertreterin der Organisation HINA, die sich in Madagaskar der Bekämpfung von Unterernährung widmet und zu dem von MISEREOR unterstützten Netzwerk BIMTT gehört. „Vier Millionen Menschen haben nur unzureichend Zugang zu Nahrung. 47 Prozent der Kinder tragen aufgrund mangelhafter Nahrungsaufnahme die Folgen von verzögerter Entwicklung –  wie etwa Wachstumsstörungen. 62 von 1000 Kindern erreichen nicht einmal das fünfte Lebensjahr.“

Dürre und Unterernährung in Madagaskar

Das sind Horrorzahlen, für die vielfältige Gründe genannt werden. So gibt es insbesondere im Süden der Insel immer wieder Dürrephasen. Madagaskar ist gleichzeitig eines der Länder, die besonders anfällig für Naturkatastrophen sind. 2013 zerstörte der tropische Wirbelsturm Haruna die Existenzgrundlage Tausender Menschen. Sintflutartige Regenfälle und starker Wind machten Häuser dem Erdboden gleich, zerstörten Anbauflächen und überschwemmten Wasserstellen.  Das einst stark bewaldete Land ist in den vergangenen Jahrzehnten massiv abgeholzt worden, auf den verbliebenen Flächen ist der Anbau von Nahrungsmitteln oft nur unter Schwierigkeiten möglich; zudem besteht die Gefahr, dass wertvoller Ackerboden durch Erosion verlorengeht. Für einen Teil der Bevölkerung bedeutet dies: Außer dem Hauptnahrungsmittel Reis bleibt  häufig nicht genügend Essen, um sich ausgewogen und gesund verköstigen zu können. Aber die Unterernährung hat auch damit zu tun, dass es außerhalb der Hauptstadt Antananarivo nur wenige gut befahrbare Straßen gibt und sich etliche Menschen über steinige Huckelpisten quälen müssen, die zur Regenzeit oft so verschlammen, dass sie nicht mehr genutzt werden können. Am Ende der Kolonialzeit verfügte das Land über 60.000 Kilometer Straße, heute sind es nur noch 5000 Kilometer. Hinzu kommt die mangelhafte Versorgung mit Agrartechnik und Saatgut. Und nicht zuletzt fehlendes Wissen. Nicht einmal 70 Prozent der Bevölkerung können lesen und schreiben.

Madagaskars Dörfer sind über Straßen oft nur schwer zu erreichen. Dieser Weg ist selbst für Geländewagen eine Herausforderung. Foto: Kopp/MISEREOR

Besuch bei Raza Rasoavandalana, die uns in ihrer dunklen Lehmhütte im Dorf Soamandroso im mittleren Osten der Insel empfängt. „Unser Problem ist, dass wir kein eigenes Land besitzen“, sagt die Mutter von sieben Kindern. Sie und ihr Mann verdingen sich als Gelegenheitsarbeiter und verdienen dabei im Schnitt 3000 Ariary pro Tag, umgerechnet etwa 84 Euro-Cent. Ackerflächen für die Versorgung ihrer Familie müssen sie sich leihen, zurzeit steht ihnen hierfür ein knapper Hektar zur Verfügung. Sie essen im Wesentlichen Reis und Maniok, dazu unregelmäßig Gemüse und ab und zu etwas Fisch. „Manchmal bleibt für den Abend nichts übrig. Dann bekommen die Kinder außer Wasser nichts vor dem Zubettgehen“, klagt Raza. „Ich mache mir Sorgen um sie.“

Fortbildung für Kleinbauern

Mit Hilfe von MISEREOR erhalten die Bewohner des Dorfes über die Partnerorganisation Vahatra Saatgut und Fortbildung im Bestellen ihrer landwirtschaftlichen Flächen. „Man kann gut sehen, wie ungeschützt und wenig widerstandsfähig die Äcker hier zum Teil angelegt worden sind“, sagt Wilhelm Thees, Referent für ländliche Entwicklung bei MISEREOR. Würden die Felder planvoll mit Hecken abgegrenzt und erhielten ein leistungsfähiges System der Wasserregulierung bzw. Drainage, mindere dies die Gefahr, dass sie von Regen und Stürmen zerstört werden. Dieses Know how fehle vielen Kleinbauern.
Anderswo auf dieser Insel kämen die Menschen mit ihren Feldern gut über die Runden, wäre da nicht das Problem, dass ihnen ihr meist schon über Generationen bestelltes Land von internationalen Investoren streitig gemacht oder gar entzogen wird. In Madagaskar haben nur wenige Bürgerinnen und Bürger Dokumente, mit denen sie juristisch unanfechtbar beweisen können, dass sie ihren Grund und Boden tatsächlich besitzen. In den meisten Fällen gilt das Gewohnheitsrecht, mit dem jeweiligen Nachbarn ist in der Regel klar festgelegt, wem welches Grundstück gehört.

Reiche Bodenschätze im armen Land

Doch seit immer mehr Unternehmen die reichen Bodenschätze Madagaskars ausbeuten bzw. fruchtbare Agrarflächen nutzen wollen, ist in manchen Gebieten helle Aufregung in der Bevölkerung ausgebrochen. Wir treffen die Bewohnerinnen und Bewohner von Tsinjoarivo, einem Dorf, das gut zwei Stunden Autofahrt entfernt von der Hauptstadt liegt. Hier hat das Pharmaunternehmen Bionexx mit Billigung der Regierung und unter Zuhilfenahme von Militäreinheiten weit mehr als die Hälfte der Agrarfläche in Besitz genommen, die zuvor von der Bevölkerung genutzt worden war. Auf 685 Hektar kultiviert die Firma die Heilpflanze Artemisia, die ein wichtiger Grundstoff für ein Malaria-Medikament ist. „Für uns reicht das verbliebene Gebiet nicht aus, um weiter genügend Lebensmittel anzubauen“, sagt Vaputo Ranaivoson, ein 80-jähriger Mann, der auf dieser Scholle jahrzehntelang sein bescheidenes Auskommen hatte. Bionexx hat ihm und anderen Ersatzflächen in 80 Kilometer Entfernung angeboten. Dort wollen die allermeisten aber nicht hin, entwurzelt aus der Dorfgemeinschaft, unsicher über die Beschaffenheit des Bodens und voller Furcht, dass auch dort jemand kommen und ihnen ihr Fleckchen Erde erneut wegnehmen könnte. Die Betroffenen haben schon mehrfach gegen das Vordringen von Bionexx demonstriert, wurden dabei auch mit Tränengas zurückgeschlagen, einige gar festgenommen. Die Bionexx-Geschäftsführung will sich auf Anfrage von Journalisten nicht zu den Vorgängen äußern.

Das Recht auf Land einfordern

Die MISEREOR-Partnerorganisation Vahatra unterstützt die Menschen in Tsinjoarivo und anderen Orten im Kampf um ihr Land, sie informiert sie über den Erwerb von Landzertifikaten und Landtiteln, um den eigenen Besitz zu sichern. Denn so sehr Großinvestoren zurzeit am längeren Hebel sitzen: Wenn es um die Verteilung von Land geht, gibt es für die Bürgerinnen und Bürger Madagaskars dennoch Wege, um zumindest zum Teil zu ihrem Recht zu kommen. Auch in dieser Hinsicht spielt das Wissen über die Sachlage eine große Rolle. „Ich hatte wenig über Zertifikate und Titel gehört“, sagt etwa der Farmer Razanadrakoto Richard. Jetzt steht er mit drei Landvermessern auf dem von ihm bewirtschafteten Gelände am Rande eines Reisfeldes und hat große Hoffnung, sein Grundstück behalten und ein Zertifikat erhalten zu können.

Offenbar auch angesichts des wachsenden Unmuts  in der Bevölkerung hatte die Regierung vor etwa einem Jahrzehnt ein Gesetz erlassen, das Bürgerinnen und Bürgern den Erwerb eines Landzertifikats ermöglicht, mit dem sie ihre Grundstücke vor dem Zugriff schützen können. Nun schreiten die Fachleute mit Maßbändern und GPS-Geräten das Gebiet des Bauern ab; mit den Messdaten wird sein Antrag bald amtlich geprüft. Landzertifikate sind für die madagassischen Bauern in den meisten Fällen finanzierbar –  im Gegensatz zu den um ein Vielfaches teureren Landtiteln, die absoluten Schutz bieten, während die Zertifikate zwar große Sicherheit, aber auch Klauseln bieten, das abgemessene Gebiet letztlich doch abgeben zu müssen. Immerhin müssen Investoren mit Besitzern von Zertifikaten über deren Ländereien verhandeln, nicht nur mit der Regierung.

Landvermessung mit Hilfe von GPS: Derzeit versuchen viele Bürgerinnen und Bürger Madagaskars, Zertifikate für ihre Ländereien zu erhalten. Foto: Kopp/MISEREOR

Die Sachlage ist kompliziert: Nach der Unabhängigkeit von den Franzosen galt in Madagaskar die Zusage, dass jemand, der ein Stück Land seit mehr als zehn Jahren bestellt, als Besitzer angesehen wird. Wirklich rechtsverbindlich war das aber nie – und ist in Zeiten wachsenden globalen Rohstoffhungers und immer mehr Unternehmen, die in Madagaskar investieren wollen, arg in den Hintergrund geraten.

Damit hat ein regelrechter Run auf die Landzertifikate eingesetzt. Aus diesem Grund haben einzelne Kommunen zentrale Veranstaltungen organisiert, an denen man – mitten auf dem Dorfplatz und damit außergewöhnlich transparent – einen entsprechenden Antrag stellen kann. Die katholische Ordensschwester Modestine Rasolofoarivola von der MISEREOR-Partnerorganisation Vahatra und ihr Team, darunter auch ein Rechtsanwalt,  begleiten und beraten die Betroffenen dabei eng und kompetent. Im Rahmen eines von MISEREOR finanzierten Projekts wurden elf Gemeindeämter mit entsprechendem Equipment ausgestattet und deren Mitarbeiter geschult. Es war schwierig, Menschen zu finden, die mit GPS-Geräten umgehen können. Auch diese wurden entsprechend fortgebildet. „Wer Papiere hat, gewinnt“, sagt Modestine. „Das ist seit den Zeiten der Kolonisierung so, als die Franzosen Grundbücher eingeführt haben.“

Goldmine bedroht Seidenraupenzucht

Auf unserer Reise lernen wir weitere Menschen kennen, deren funktionierender Alltag durch ausländische Unternehmen empfindlich gestört bzw. gefährdet wird. Etwa jene Seidenraupenzüchter von Tsaramasoandro, in deren Nachbarschaft eine unter chinesischer Führung stehende Goldmine vergrößert werden soll und damit jener Tapia-Wald verschwinden würde, von dessen Früchten und Tieren sie bislang auf einfachem Niveau gut gelebt haben. Tapia ist ein nur in Madagaskar vorkommender Baum, dessen Blätter als Hauptnahrung für die Seidenraupen gelten.

Seidenraupenzucht in Madagaskar: Auch diese Frau fürchtet um ihre Existenzgrundlage, weil der Wald, in dem sie wirtschaftet, einer Goldmine chinesischer Betreiber weichen soll. Foto: Kopp/MISEREOR

Wir treffen Anrainer der Nickel- und Kobaltmine Ambatovy, einem der größten Bergbauprojekte in der Geschichte des Landes. 29 Jahre lang sollen in einem 1600 Hektar großen Abbaugebiet die wertvollen Metalle gefördert und insgesamt elf Milliarden Dollar investiert werden. Die Betreiber, das kanadische Unternehmen Sherrit, verweisen auf Arbeitsplätze und Steuereinnahmen für den Staat, die umliegenden Dorfgemeinschaften fürchten um ihr Land und haben Angst vor Umweltproblemen. Nach einem fairen Ausgleich der Interessen sieht es eher nicht aus.

Viehdiebstahl mit mafiösen Hintergrund

Und als wenn all das nicht schon schwierig genug wäre, wird Madagaskar noch von einem weiteren Großproblem geplagt: dem professionellen Viehdiebstahl. Offenbar mafiös organisierte Banden überfallen dabei mit 60 und mehr bewaffneten Tätern einzelne Höfe, um der madagassischen Rind-Variante, den Zebus, habhaft zu werden. Was mit den Tieren anschließend geschieht, ist unklar; dass sie exportiert werden, wahrscheinlich. Die Banden verladen die Viehherden vor Ort gleich auf mitgebrachte Viehtransporter, welche dann den nächstgelegenen Schlachthof oder Verladehafen anrollen. Die Preise, die beispielsweise auf den Komoren oder auf La Réunion für Rindfleisch bezahlt werden, machen dieses Geschäft sehr lukrativ.

In den betroffenen Ortschaften ringt man um Gegenmaßnahmen, wir treffen Dorfbewohner, die ihre Ersparnisse zusammenkratzen, um wenigstens einen Polizisten zu finanzieren, der etwas mehr Schutz vor den Ganoven bietet. Staatlicherseits werden solche Hilfen nicht ermöglicht. Stattdessen reagieren die Behörden teilweise extrem brutal. Laut Amnesty International sollen Viehdiebe von der Polizei regelrecht hingerichtet worden sein. Die Rinderzüchter selbst brüten über konkreten Gegenmaßnahmen wie einer Art „Visums-Pflicht“ für Rinder, die exportiert werden sollen, und deren Kennzeichnung via GPS-Chip. Eine Patentlösung gegen die Diebesbanden hat indessen niemand.


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Ralph Allgaier arbeitet als Pressesprecher bei Misereor.

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