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Brasilien: Gefängnisrevolten und Diskriminierung von Indigenen

Zu Jahresbeginn kam es in verschiedenen Städten Brasiliens zu Gefängnisrevolten. Die Gewalt nahm dramatische Ausmaße an. Die Gefängniswärter wurden der Situation nicht mehr Herr. Die Regierung schickte daraufhin hunderte von Streitkräften, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Viele Gefangene entkamen, andere wurden unter großem Aufwand verlegt. Die Leichen mancher Opfer ließ man verschwinden. Dadurch wussten viele Familien der Insassen tagelang nicht, ob ihre Angehörigen noch am Leben sind oder nicht. Die Brasilienreferentin Regina Reinart schildert im Interview ihre Eindrücke der Lage und erläutert die Hintergründe.

Die Gefängnisse in Brasilien sind meist überlegt, die Bedingungen für die Häftlinge dadurch unerträglich ©Pastoral Carcerária

Was steckt hinter den Gefängnisrevolten und der unglaublichen Gewalt?

Bei den Gefängnisrevolten geht es vordergründig um den Konflikt zwischen zwei Drogenbanden, die sich in den Gefängnissen bekriegen. Sie werden jedoch befördert von einer unerträglichen Überbelegung. Allein im Bundesstaat São Paulo gibt es 166 Gefängnisse, davon sind 144 überbelegt. In einer Zelle, die für acht Personen ausgelegt ist, sind teilweise bis zu 35 Personen auf engstem Raum eingesperrt. Auch die Behandlung der Insassen ist unmenschlich. So ist es nicht erstaunlich, dass die Gefangenen gegen diese Verhältnisse aufbegehren. Seit Anfang Januar haben die Gefängnisrevolten mindestens 130 Opfer gefordert. Während meiner Dienstreise im Januar traf ich in São Paulo den Leiter der von uns unterstützten nationalen Gefängnispastoral, Pater Valdir João Silveiro. Er sagte mir: „Man geht ins Gefängnis als Verurteilter, man kommt raus als Monster.“

Wie bewertet die Gefängnispastoral die Ursachen dieser Vorfälle?

Die Gefängnispastoral hat diese Problematik lange kommen sehen. In Brasilien gibt es über 711.000 Gefangene. Damit liegt Brasilien weltweit hinter Russland und den Vereinigten Staaten an dritter Stelle. Die Delikte, für die Menschen einsitzen, sind oft Bagatellen. Man fragt sich, warum sie zum Beispiel für kleine Diebstähle ins Gefängnis kommen. Schon 2006 kamen in São Paulo bei einer Revolte laut offiziellen Angaben 493 Menschen ums Leben und über 50 Busse wurden in Brand gesetzt. Aus den Gefängnissen heraus wurde eine Stadt mit 20 Millionen Einwohnern lahmgelegt. Die Gefängnispastoral setzte sich schon damals für alternative Formen der Bestrafung ein wie die sogenannte „restaurative Gerechtigkeit“. Täter von kleineren Delikten sollten besser in Jugendprojekten mitarbeiten oder andere soziale Dienste leisten und dabei psychologische Betreuung erhalten. So entsteht ein Versöhnungsdialog, der Opfer, Täter sowie die betroffene Familie und Gemeinde einschließt. Die Täter verstehen so besser, dass sie etwas falsch gemacht haben und es möglich ist, ihre Fehler durch einen Dienst für die Allgemeinheit zu korrigieren. Nach den jüngsten Revolten traf sich Pater Valdir in Manaus mit Opfern, deren Anwälten und der Polizei. Schon 2006 war er eine Schlüsselperson und ging damals unter persönlichem Risiko in die Gefängnisse zu den revoltierenden Insassen, deren Vertrauen er über die Jahre gewonnen hatte. So nimmt die Gefängnispastoral auch eine wichtige Vermittlerrolle ein.

Pater Valdir João Silveiro, Leiter der nationalen Gefängnispastoral, bei einem Gefängnisbesuch ©Valdir João Silveiro

Wie reagierten die Kirche und die brasilianische Politik auf die Revolten?

Die Reaktionen waren bezeichnend. Der Papst drückte unmittelbar nach den jüngsten Vorfällen seine Solidarität mit den Opfern aus. Präsident Temer meldete sich erst nach Tagen zu Wort. Statt einer Solidaritätsbekundung, forderte er den Bau von mehr Gefängnissen. Daher betreibt die Gefängnispastoral Lobbyarbeit und Bewusstseinsbildung im Sinne der erwähnten, sogenannten „restaurativen Gerechtigkeit“. Zudem kompensiert sie im Prinzip, was der Staat nicht leistet. Landesweit bildet die Pastoral in den Gemeinden Ehrenamtliche in Menschenrechtsarbeit und der psychologischen Begleitung von Gefangenen aus, die fortan als Multiplikatoren agieren.

Lassen Sie uns den Blick etwas weiten: Wie stellt sich die Menschenrechtslage in Brasilien zurzeit dar in Bezug auf die indigene Bevölkerung?

Mit der Temer-Regierung hat sich die Menschenrechtssituation in Brasilien auf allen Ebenen verschlechtert. Zwei Beispiele: Die Gelder für den Bildungs- und Gesundheitsbereich sollen für die nächsten zwanzig Jahre eingefroren werden. Das ist ein Desaster für alle unsere Partner, die sich in diesen Bereichen engagieren. Zudem soll die gesetzlich festgelegte Markierung, auch „Demarkation“ genannt, der indigenen Territorien erschwert werden. Mit Mitarbeitern unserer Partnerorganisation CIMI, die Fachstelle für Indigene, habe ich im Januar im Bundesstaat Mato Grosso do Sul sechs indigene Dörfer besucht. Ich war beeindruckt von der Arbeit von CIMI und gleichzeitig unglaublich betroffen von der schlimmen Situation der Indigenen und der Gewalt, die sie in ihrem Alltag erfahren. In einem dieser Dörfer erzählten mir die Bewohner, dass sie in den vergangenen Wochen drei Mal von den Großgrundbesitzern, die das Land beanspruchen, vertrieben wurden und ihr weniges Hab und Gut in Brand gesetzt wurde. Es handelt sich um eine kleine Gemeinde von ungefähr sechzig Menschen, vor allem Frauen und Kindern. Sie versteckten sich in Feldern und schliefen dort, um mit ihrem Leben davonzukommen.

Unter welcher Gewalt haben die Indigenen konkret zu leiden?

Die Gewalt nimmt unterschiedliche Formen an. Auf der einen Seite steht die physische Gewalt in Form von Morden oder Vertreibungen der Indigenen von ihrem angestammten Land durch die Großgrundbesitzer. Auch Großprojekte wie zum Beispiel die vielen Staudämme haben ähnlich gewalttätige Folgen. Oft werden die Leichen der Opfer nie zurückgebracht. Wenn der Leichnam nicht in der Erde begraben wird, ist der Verlust für die Indigenen eine Wunde, die nie heilt. Auf der anderen Seite stehen kulturelle und strukturelle Formen von Gewalt. Viele Indigene leben eingepfercht und auf engstem Raum direkt an Bundesstraßen. Hinzu kommt die schlechte Ernährungssituation. Auch die stetige Bedrohung und Diskriminierung hinterlassen ihre Spuren. Als ich mit Indigenen vor Ort unterwegs war, blieben sie teilweise aus Angst im Auto sitzen, während ich Erledigungen machte. Menschen, deren Vorfahren schon seit Jahrhunderten an diesem Ort lebten, trauen sich also nicht mehr, sich frei zu bewegen. Das war sehr schockierend für mich.

Brasiliens Indigene geben nicht auf: „Wir kämpfen für unser Recht. Land, Gerechtigkeit und Freiheit!“ ©Regina Reinart/MISEREOR

Wie ist die Lage für unsere Partnerorganisationen, die sich für die Belange der Indigenen einsetzen?

Seit Januar 2016 gingen mehr und mehr Nachrichten bei uns ein, dass Büros von Partnerorganisationen ausgeraubt oder zerstört wurden. Die Landpastoral (CPT), die Fachstelle für Indigene (CIMI) und die Bewegung der von Staudämmen Betroffenen (MAB), die sich für die Interessen der Indigenen einsetzen und von uns gefördert werden, hatten in den Gruppen, mit denen sie arbeiten, jeweils alle Mordopfer zu beklagen. Die Morde wurden von Großgrundbesitzern und einflussreichen Menschen mit geschäftlichen Interessen am Agrobusiness und Großprojekten verübt. In einem besonders schlimmen Fall wurde eine Mutter von zwei Kindern und ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bewegung MAB im Januar 2016 brutal ermordet. Ihr Leichnam wurde erst im August gefunden und ihre Töchter mussten sie identifizieren.

Was tut MISEREOR für bedrohte Menschenrechtsverteidiger in Brasilien?

Es gibt auf nationaler Ebene ein staatliches Schutzprogramm für bedrohte Menschenrechtsverteidiger, das aber sehr dürftig ist. Daher unterstützten wir unsere Partnerorganisationen dabei, ein eigenes Schutzprogramm auf den Weg zu bringen. Dieses Schutzprogramm bietet zunächst einmal 36 betroffenen Personen physischen Schutz, um sie und ihre Familien aus der Region herauszuholen und so der direkten Bedrohung zu entziehen. Das können sowohl Vertreter der Indigenen als auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Partnerorganisationen sowie weiterer zivilgesellschaftlicher Organisationen sein. Darüber hinaus sieht das Schutzprogramm die Stärkung der Lobbyarbeit vor, sodass politischer Druck auf die Regierung entstehen kann, das nationale Schutzprogramm auszubauen. Das Programm bietet den Betroffenen auch Rechtsbeistand durch kundige Juristen. Misereor hofft, dass das Programm, neben der Förderung von menschenrechtlichen Elementen in vielen einzelnen Projekten, einen Beitrag dazu leisten kann, dass zunächst Gewalttaten verhindert werden. Langfristig setzt sich Misereor auf allen Ebenen, auch auf der internationalen, dafür ein, Menschenrechtsverletzungen anzuklagen, denn die Bestrafung derselben ist die beste Prävention dagegen.

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Thomas Kuller ist Fachreferent für Friedensförderung und Konflikttransformation bei MISEREOR.

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