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Ein Jahr nach Olympia: die Krise in Rio de Janeiro hat sich weiter verschärft

Genau ein Jahr nach Olympia in Brasilien bestimmen erneut schwer bewaffnete Militärpatrouillen das Bild an Rio de Janeiros Knotenpunkten. Diesmal dienen sie nicht,  wie noch vor einem Jahr, den aus aller Welt stammenden Olympiatouristen als Fotoobjekte. Ihr Job ist es, die Bevölkerung vor der eskalierenden Gewalt zu schützen und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Auf Anordnung des brasilianischen Verteidigungsministeriums belagern  8.500 Soldaten und weitere 1.500 Sicherheitsbeamte bis Ende des Jahres die Stadt.

Der ruhmvolle Rasen des Maracana-Stadions hat sich ein Jahr nach den Sommerspielen von Rio in einen ausgeblichenen, braunen Teppich verwandelt. Foto: PACS

Der ruhmvolle Rasen des Maracana-Stadions hat sich ein Jahr nach den Sommerspielen von Rio in einen ausgeblichenen, braunen Teppich verwandelt. Foto: PACS

Ein Jahr nach der Olympia-Party in Rio de Janeiro sind Not und Frust vielen Bürgerinnen und Bürgern aufs Gesicht geschrieben. Nach Schätzungen der MISEREOR-Partnerorganisation PACS (Instituto Politicas Alternativas para o Cone Sul) leben inzwischen mehr als 15.000 Menschen auf den Straßen Rios. Ein ausgebreiteter Korruptionsapparat, Fehlinvestitionen in die Mega-Events WM und Olympische Spiele und daraus folgend leere Haushaltskassen haben Rio de Janeiro in einen tiefen Abgrund gestürzt.

Seit Olympia: Kein Geld mehr für Sicherheit, Sozial- und Gesundheitsleistungen

Der Stadt und dem gleichnamigen Staat fehlt es an Geldern, um ein Minimum an Gesundheitsversorgung, Sozialleistungen und Sicherheit bereit zu stellen. Eine explosionsartige Zunahme von Armut und Gewalt sind die Folge. Bereits in der ersten Jahreshälfte 2017 wurden laut dem Institut für öffentliche Sicherheit (ISP) in Rio 2.723 Menschen ermordet; 10,2 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Noch höher sind die Statistiken von Überfällen und Diebstählen: Allein der Diebstahl von Autos erhöhte sich von 19.633 auf 27.534 Fälle, um ganze 40.2 Prozent gegenüber den ersten sechs Monaten in 2016. Täglich geraten unschuldige Menschen, darunter viele Kinder, zwischen die Fronten von Drogenbanden und Polizei. In diesem Jahr wurden bereits 632 Personen von Querschlägern getroffen, in 70 Fällen endete dies tödlich.

Immer rücksichtsloser geht die Polizei gegen die Bewohner der Favelas Rios vor – besonders betroffen von Polizeigewalt: Menschen mit dunkler Hautfarbe. Foto: Carlos Moioli.

Immer rücksichtsloser geht die Polizei gegen die Bewohner der Favelas Rios vor – besonders betroffen von Polizeigewalt: Menschen mit dunkler Hautfarbe. Foto: Carlos Moioli.

Im Fokus der Polizeigewalt: junge, dunkelhäutige Männer

Die Polizei hat nicht nur die Kontrolle im Kampf mit den Drogenbanden verloren, sondern auch das Vertrauen der Bewohner von Rios Armenvierteln. Einzelne Gruppen der Polizei machen  gemeinsame Sache mit Drogenbanden und paramilitärischen Banden, zuletzt wurden 96 Beamte aufgrund ihrer Verwicklung in illegale Machenschaften verhaftet. Mit immer rücksichtsloseren Maßnahmen gehen die Polizeikräfte gegen die Bewohner der etwa 800 Favelas der Stadt vor – besonders betroffen von Polizeigewalt sind Menschen mit dunkler Hautfarbe. Nach Angaben der katholischen Nachrichtenagentur KNA starben von Januar 2016 bis März 2017 1.227 Menschen durch die Hand von Polizisten. 90 Prozent der Opfer waren junge, dunkelhäutige Männer.

Die Eskalation der Gewalt schlägt sich auch im Tourismus nieder. Viele Touristen trauen sich nicht mehr in die Stadt der Traumstände, Botschaften verschärfen ihre Reise-Sicherheitshinweise. Nach Angaben des Nachrichtenmagazins G1 Globo waren im Ferienmonat Juli nur 40 Prozent der Hotelbetten in Rio belegt. Viele Hotels sehen sich für das eigene Überleben gezwungen, ganze Etagen zu schließen und Mitarbeiter zu entlassen.

Nichts ist vom Glanz Olympias übrig

Und was ist aus Rios kostspieligen Olympiasportstätten geworden? Für deren öffentliche Nutzung hatte der damalige Bürgermeister Eduardo Paes vor den Spielen ambitionierte Nachhaltigkeitspläne vorgestellt. Die Antwort ist: nichts! Der ruhmvolle Rasen des Maracana-Stadions hat sich seit der olympischen Abschlussfeier in einen ausgeblichenen, braunen Teppich verwandelt. Der teure Golfplatz ist nur noch ein Acker. Auch die vielen anderen Sportstätten, darunter der eigens für die Olympischen Spiele errichtete Olympiapark, dümpeln vor sich hin. Die leeren Haushaltkassen liefern dem an den Plänen seines Vorgängers wenig interessierten neuen Bürgermeister der Stadt, Marcelo Crivella, die nötigen Argumente um die Nutzungspläne der Olympiastätten tief in seinem Aktenschrank zu vergraben.

Dank Maria da Penha ist es 20 von 824 Familien gelungen, ihren Wohnraum gegen die Bulldozer der Stadt Rio zu verteidigen. Foto: PACS

Dank Maria da Penha ist es 20 von 824 Familien gelungen, ihren Wohnraum gegen die Bulldozer der Stadt Rio zu verteidigen. Foto: PACS

20 von 824 Familien gelang es, sich den Bulldozern der Stadt zu widersetzen

In der am Olympiapark angrenzenden Gemeinde „Vila Autódromo“ ist es 20 von einst 824 Familien um die Symbolfigur Maria da Penha gelungen, sich durch Standfestigkeit  und Courage dem Psychoterror der Stadtverwaltung zu widersetzten und ihren Wohnraum zu verteidigen. Vor einem Jahr hat ihnen der ehemalige Bürgermeister Eduardo Paes endlich die Schlüssel zu 21 kleinen, neu errichteten Häusern übergeben. Eines nutzt die Gemeinde seither als Museum. Fotowände erzählen heute die Geschichte vom „Vila Autódromo“; sie dokumentieren die brachiale Gewalt, mit der mit Bulldozern damals gegen die Bewohner vorgegangen wurde.

Noch drückt sich der neue Bürgermeister davor, den versprochenen Sportplatz und ein Kulturzentrum zu bauen. Auch wurden der Gemeinde noch immer nicht die Eignungsurkunden ihrer Häuser übergeben. Doch Maria da Penha scheint das keine Sorgen zu machen. „Es ist doch klar, dass die sagen, dass sie kein Geld haben“, erklärt sie. „Aber die Abmachung werden sie einhalten müssen, auch wenn es dauert. Wir wissen, dass die Regierung nicht für alle arbeitet, sondern nur für eine Minderheit. Und dass wir Armen permanent für unsere Rechte kämpfen müssen. Diesen Kampf werden wir weiterführen.“

Über den Autor: Stefan Kramer leitet die MISEREOR Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilia.


Weitere Informationen

Blogbeitrag: Rio de Janeiro steckt nach Olympia in tiefer Krise

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Stefan Kramer leitet die MISEREOR Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilia/Brasilien.

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