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Venezuela muss den Notstand ausrufen

Vor der Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung in Venezuela am Sonntag ist die Lage weiterhin angespannt. Im Interview spricht Almute Heider, MISEREOR-Länderreferentin für Venezuela, über die aktuelle Lage in dem lateinamerikanischen Krisenstaat.

Almute Heider, MISEREOR-Länderreferentin für Venezuela. Foto: MISEREOR

Wie ist die aktuelle Lage der venezolanischen Bevölkerung?

Almute Heider: Der Großteil der Bevölkerung ist viele Stunden am Tag damit beschäftigt, Lebensmittel und Medikamente zu ergattern. Zyniker sprechen von der „Maduro-Diät“, denn de facto haben die Venezolaner in den letzten drei Jahren im Durchschnitt acht Kilogramm abgenommen. Die allermeisten essen nur noch 1-2 Mal am Tag und es gibt in fast jeder Familie jemanden, der zugunsten eines schwächeren Familienmitglieds auf Essen verzichtet. Im Gesundheitsbereich sieht es ähnlich schlimm aus. 85 Prozent aller Medikamente gibt es nicht mehr, darunter gängige Mittel gegen Bluthochdruck oder Diabetes. Auch die Versorgung von Kranken liegt am Boden. Die Krankenhäuser sind teilweise geschlossen oder funktionieren nur noch sporadisch, weil es keine Möglichkeiten mehr gibt, zu operieren oder Dialysen durchzuführen. Ein Freund berichtet von der Schwierigkeit, Medikamente ins Land zu bekommen. Er hat auch erlebt, dass Verkäufer in den USA, obwohl selbst Venezolaner, Medikamente zu einem höheren Preis verkaufen wollen. Diese Kriegsgewinn-Mentalität ist bitter, wenn man das Leid der Menschen sieht. In den Medien werden akribisch die Toten gezählt, die es während der Demonstrationen und Ausschreitungen auf den Straßen Venezuelas gibt. Die vielen Menschen aber, die wegen fehlender Medikamente oder der nicht vorhandenen Gesundheitsversorgung sterben, zählt Niemand.

Die venezuelanischen Bischöfe von El Vigía-San Carlos del Zulia und Punto Fijo haben in einem Interview mit MISEREOR betont, dass nur eine neue Regierung Entspannung bringen kann. Wie wahrscheinlich ist der Regierungswechsel noch?

Almute Heider: Optimisten hoffen noch immer, dass Maduro einlenkt. Sie sehen die Überstellung des Oppositionspolitikers Leopoldo Lopez, der seit 2014 als politischer Gefangener in Haft ist und derzeit unter Hausarrest steht, als ein Zeichen dafür. Alle, die ich kenne, halten dieses Szenario aber für unwahrscheinlich. Maduro und weitere Politiker stehen in den USA auf der schwarzen Liste. Wohin sollten sie gehen, wenn sie das Land verlassen müssen? Sie werden sich bis zum Schluss an ihre Macht klammern. Es ist doch ein Merkmal von Diktaturen, dass das Leid des Volkes unwichtig ist, wenn es um den eigenen Machterhalt geht.

An diesem Sonntag findet die Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung statt. Was erwarten bzw. befürchten Sie, vor allem für die Bevölkerung?

Almute Heider: Es ist nicht abzusehen, wie viele Menschen am Sonntag zu dieser Abstimmung gehen, bei der nur mit „Ja“ gestimmt werden kann. Die hohe Beteiligung am Generalstreik am 20. Juli war nicht abzusehen. Es scheint, als ließe sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr von den Einschüchterungsversuchen der Regierung –  wie z.B. durch die Einstellung der Verteilung von Lebensmitteln an Staatsangesstellte oder die Drohung mit dem Verlust des Arbeitsplatzes – abhalten, ihre Meinung kundzutun. Die Sorge unserer Partner ist, dass die Abstimmung Auftakt zu einer noch stärkeren, noch gewalttätigeren Protestwelle ist. Es könnte, kommt es zudem zu einer Neu-Positionierung des Militärs oder Teilen davon, sogar zu einem Bürgerkrieg kommen.

Was bedeuten diese Entwicklungen für die internationale Zusammenarbeit?

Almute Heider: Venezuela ist als „failed state“ zu betrachten. Wir haben es nicht mehr mit einem Land in der Krise zu tun, sondern mit einer humanitären Katastrophe – die bisher aber nicht ausgerufen wurde. Sobald es die Möglichkeit gibt, Hilfsgüter ins Land zu bekommen, wird die Internationale Gemeinschaft ihre Aufgabe diesbezüglich wahrnehmen müssen. Es ist für mich erstaunlich und enttäuschend, dass die Souveränität eines Landes so weit geht, dass der Internationalen Gemeinschaft derart die Hände gebunden sind, solange die Regierung nicht den Notstand erklärt. Zudem kämpft das Nachbarland Kolumbien seit längerem mit der Fluchtbewegung aus Venezuela. Wenn sich die Zustände dort verschlimmern und damit die Flüchtlingsströme anwachsen, wird Kolumbien internationale Hilfe benötigen. Auch der Bischof von Roraima im Norden Brasiliens, Dom Mario Antônio da Silva, berichtet von unerträglichen Zuständen aufgrund der vielen Flüchtlinge in einem Amazonas-Bundesstaat, der keine Infrastruktur zum Auffangen der Probleme bereitstellen kann.

Wie kann die Kirche  den Menschen weiterhin zur Seite stehen?

Almute Heider: Die venezolanische Bischofskonferenz hat in ihren Erklärungen die Forderungen des mehrheitlich oppositionell besetzten Parlamentes unterstützt und sich damit eindeutig positioniert. Als Verhandlungsführerin für eine versöhnliche Lösung kommt sie daher nicht mehr in Frage. Es ist aber mehr als wichtig, dass die Bischöfe nach wie vor zur Gewaltlosigkeit aufrufen und für eine friedliche Lösung plädieren. In einem derart gespaltenen und gewaltvollen Land, wie es Venezuela derzeit ist, kann die klare Option für Gewaltlosigkeit seitens der Kirche zumindest Trost für die Bevölkerung sein.


Weitere Informationen

Krise in Venezuela: Es geht nur mit einer neuen Regierung

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Rebecca Struck war die persönliche Referentin vom Hauptgeschäftsführer bei Misereor.

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