Suche
Suche Menü

„Indien verzeichnet wirtschaftliches Wachstum, allerdings ohne Armutsminderung“

Mit dem Welttag der Armen will Papst Franziskus „die Gläubigen anspornen, damit sie der Wegwerfkultur und der Kultur des Überflusses eine wahre Kultur der Begegnung entgegenstellen“. Die beiden Hilfswerke Adveniat und MISEREOR haben auf den verschiedenen Kontinenten Menschen interviewt, die sich mit ihrem Leben für die Armen einsetzen. Im folgenden Gespräch äußert sich der indische Befreiungstheologe Felix Wilfred zur Situation in Indien.

Felix Wilfred

Verglichen mit anderen Nationen ist die Armutsquote in Indien besonders hoch. Warum führen die Bemühungen Indiens, diese Situation zu ändern, nicht zum Erfolg?

Felix Wilfred: Das liegt daran, dass Indien noch mehr als andere Nationen ein falsches Entwicklungsmodell verfolgt. Daher verzeichnet das Land zwar Wachstum (Indien ist heute, trotz gelegentlicher Rückschläge, die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft weltweit), jedoch ohne Armutsminderung. Das gegenwärtig weltweit vorherrschende Entwicklungsmodell führt zu falschen Prioritäten. Der Hochgeschwindigkeitszug „Bullet Train“ wird zur Priorität ernannt – ein Prestigeprojekt –, während 190 Millionen Menschen in Indien Tag für Tag hungern und 97 Millionen Kinder aufgrund von Mangelernährung untergewichtig sind. Ein zweiter Grund ist, dass dieses Entwicklungsmodell in einem Land umgesetzt wird, das nicht über die richtigen Voraussetzungen verfügt. Bevor China unter sozialistischem Regime den Weg zu einer liberalen Wirtschaft einschlug, nahm man eine Landverteilung vor, sorgte für ein einigermaßen funktionierendes öffentliches Gesundheitswesen usw. Indien sprang auf den Zug der Globalisierung und der freien Wirtschaft auf, ohne vorher diese Voraussetzungen zu schaffen. Daher bleiben beim vorherrschenden Entwicklungsmodell, dem Indien folgt, Millionen von Armen auf der Strecke, während man darüber nachdenkt, wie man das Bruttoinlandsprodukt steigern und mit anderen Nationen in der Entwicklung konkurrieren kann. Der Leitspruch des Wirtschaftsliberalismus, dem Indien folgt, lautet: Wer nicht konkurriert, stirbt. In Indien sterben aber Menschen, weil fehlgeleitete Politiker und Planer konkurrieren wollen; und in diesem Prozess werden in einem in der indischen Geschichte ungekannten Ausmaß die ohnehin Wohlhabenden immer noch reicher.

Gibt es besondere Bedingungen oder Faktoren, wie zum Beispiel das Kastensystem oder die Überbevölkerung, welche die Armut verschärfen?

Felix Wilfred: Ich möchte zuerst auf die Bevölkerungszahlen eingehen. Überholte frühere Analysen sahen darin eine der Ursachen. Man betrachtete die Bevölkerungszahlen als Hindernis für Wachstum, Entwicklung und Armutsreduzierung. Daran machte man alle Missstände in Indien fest. Wie aber schon Gandhi sagte: Die Welt hat genug für die Bedürfnisse aller Menschen, aber nicht für ihre Gier. Dem Bevölkerungswachstum die Schuld zu geben, kommt einer Vertuschung der krassen Ungleichheit der Entwicklungsrealität in unserer Welt gleich. Inzwischen ist nachgewiesen, dass die menschlichen Ressourcen am wichtigsten sind für die Welt. Das heutige Indien ist ein Land der jungen Menschen – über 41 Prozent der Bevölkerung sind unter 20 Jahre alt; die über 60-Jährigen machen dagegen nur 9 Prozent der Bevölkerung aus. Damit hebt Indien sich deutlich vom Westen mit seiner alternden Bevölkerung ab und zunehmend auch von Japan und China. In Deutschland ist jeder Vierte über 60 Jahre alt und das Durchschnittsalter ist von 34,5 im Jahr 1955 auf 46 im Jahr 2017 gestiegen. Eine junge Bevölkerung ist ein wichtiger Wachstumsfaktor, vorausgesetzt man verfolgt den richtigen Weg einer Entwicklung für alle und schafft Arbeitsplätze.
Das Kastensystem ist zweifellos ein sozialer Faktor, der das Wachstum beeinflussen kann. Es ist allerdings nur ein Handlanger des vorherrschenden Entwicklungsmodells, das die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer macht. Das Kastensystem ergänzt nur die Logik der Ungleichheit der liberalistischen freien Marktwirtschaft mit ihren Antriebskräften Wettbewerb und Gier. Es macht die höheren Kasten reicher und die niedrigeren ärmer. Wir sollten also das Kastensystem nicht isoliert, sondern in seiner Wechselwirkung mit der freien Marktwirtschaft betrachten.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist das koloniale Erbe. Während der Kolonialzeit durchlebte Indien schreckliche Hungersnöte. Diese Situation hat das Land in den 70 Jahren seit der Unabhängigkeit durch die grüne Revolution überwunden. Es produziert sogar einen Überschuss an Nahrungsmitteln.

Mehr als 200 Millionen Menschen in Indien sind unterernährt. Was muss geschehen, damit dieses Problem gelöst werden kann? Ist Indien in der Lage, diese Situation alleine zu bewältigen?

Felix Wilfred: Diese Frage geht von einem verengten, rein aufgabenorientierten Ansatz und einer instrumentalisierenden Vernunft aus. Sie scheinen den Himalaya über Nacht versetzen zu wollen! Wir stehen vor einem Problem, das die ganze Menschheit betrifft. Wir sollten nicht „Trump“ spielen und komplexe Probleme vereinfachen und zu naiven Lösungen greifen wollen. Wir müssen einen aufgeklärteren Weg einschlagen. Wenn – wie Sie sagen – 200 Millionen Menschen unterernährt sind, dann ist das nicht nur Indiens Problem, sondern ein Problem für die Welt und die Menschheit. Als Mitglieder der Menschheitsfamilie tragen wir alle Verantwortung. Und Menschen sind wichtiger als Nationen, die oft nur „imaginäre Gemeinschaften“ sind. Die Welt muss darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, weiter einem Modell zu folgen, das so viele Millionen unterernährt zurücklässt. Wer sind wir, für 1,3 Milliarden Menschen in Indien planen zu wollen und zu fragen, ob sie die Situation in den Griff bekommen werden? Es liegt an ihnen selbst herauszufinden, wie ihre Zukunft aussehen kann und für sich zu planen, wie sie sich ihre Entwicklung vorstellen. Die Psychopathologie des Planens für andere – ein Teil des vorherrschenden Entwicklungsmodells mit Überbleibseln aus der Kolonialzeit, in der die Weißen glaubten, die Probleme der Welt lösen zu müssen – lässt die Entscheidungsfreiheit der Menschen und ihren Status als eigenständige Subjekte ihres Handelns außer Acht. Ich denke, es ist demgegenüber wichtig, eine Haltung des Zuhörens zu einzunehmen.

Aus den Nachrichten erfährt man, die Ungleichheit in Indien sei in der letzten Zeit größer geworden. Unternimmt die Regierung in Neu-Delhi genug gegen diese Situation?

Felix Wilfred: Es geht nicht darum, dass Neu-Delhi etwas unternimmt – auch diese Frage offenbart eine Engführung in der Herangehensweise. Wir brauchen einen mehrgleisigen Ansatz. Es gibt viel zu tun für alle politischen, sozialen und wirtschaftlichen Akteure, wenn sie das Umfeld verändern und die Beseitigung der Armut vorantreiben wollen. Dazu müssen alle Akteure in der Gesellschaft beitragen, besonders zivilgesellschaftliche Bewegungen. Ich empfehle als Lektüre „An Uncertain Glory: India and Its Contradictions“ , ein Buch, das der indische Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen (Wirtschafts-Nobelpreisträger) zusammen mit Jean Dreze geschrieben hat. Mithilfe von Statistiken zeigen die Autoren, dass die Armutsreduzierung in Indien hinter der von Bangladesch, Sri Lanka, Nepal usw. zurückliegt und weisen den Weg zu einer gerechten Entwicklung. Doch bedauerlicherweise unterdrückt der indische Staat zunehmend die Zivilgesellschaft, soziale Bewegungen und freiwillige nichtstaatliche Akteure und Gruppen. Gerade sie stehen den Menschen aber am nächsten und könnten sie und ihre Zukunftspläne ein Stück weit begleiten und fördern. Eine starke politische Bereitschaft der Regierenden, unabhängige, nichtstaatliche Akteure, die an der Basis arbeiten, zu unterstützen, könnte viel verändern. Die zivilgesellschaftlichen Bewegungen sind – wie die junge Bevölkerung – eine Stärke Indiens. Nichtstaatliche zivilgesellschaftliche Gruppen sind bisher sehr aktiv gewesen, zum Beispiel in den Bereichen Ernährung, Gesundheitspflege, Bildung, bei Frauenthemen und Umweltfragen. Die aktuellen Anstrengungen der Regierenden, freiwilliges, nichtstaatliches Engagement und soziale Bewegungen auszulöschen, sind ein Schlag gegen die Beseitigung der Armut. Der Staat zieht eine Aufgabe an sich, die er alleine nicht bewältigen kann. Wie die Geschichte aber gezeigt hat, gibt es Grund zur Hoffnung, dass eine Regierungsführung, welche die Interessen der Menschen missachtet, nicht von langer Dauer sein wird.

Übersetzung aus dem Englischen: Jutta Hajek


Weitere Interviews zum Welttag der Armen

Kamerun: „Die Armut hat ein weibliches Gesicht“

Weltweite Solidarität wider globalisierte Wirtschaft

Welttag der Armen: Ist die deutsche Kirche reich, weil so viele arm sind?

Geschrieben von:

Avatar-Foto

Ralph Allgaier arbeitet als Pressesprecher bei Misereor.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.


Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.