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Kamerun: „Die Armut hat ein weibliches Gesicht“

Als Kind hat Marthe Wandou miterlebt, wie ihre Klassenkameradinnen eine nach der anderen die Schule verlassen mussten. Heute setzt sich die Direktorin der MISEREOR-Partnerorganisation ALDEPA in ihrem Heimatland Kamerun dafür ein, dass Mädchen vor der Zwangsverheiratung bewahrt werden und einen Schulabschluss machen können. Ein Gespräch zum Weltfrauentag über die Ursachen von Armut in Kamerun und das Engagement der Kamerunerinnen, diese zu bekämpfen.

Marthe Wandou, Direktorin der MISEREOR-Partnerorganisation ALDEPA, Kamerun.

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Wo liegen Ihrer Meinung nach die Hauptursachen für die nach wie vor weit verbreitete Armut in Afrika?

Marthe Wandou: Die Armut in Afrika hat äußere und innere Gründe. Die äußeren Gründe liegen in schwierigen und unvorhersehbaren klimatischen Bedingungen, dem Klimawandel, der weltweit zu beobachtenden Überbevölkerung, die vor allem Afrika betrifft, dem internationalen Terrorismus sowie der hohen Verschuldung der afrikanischen Staaten. Innere Gründe sind die mangelnde Effektivität der Entwicklungspolitiken sowie fehlende Infrastrukturen in der Landwirtschaft. Dazu kommt der zunehmende Landraub, der von lokalen Eliten und internationalen Unternehmen immer weiter vorangetrieben wird. Eine maßgebliche Rolle spielen auch negative kulturelle Praktiken, die Frauen, also die Hälfte der Bevölkerung, diskriminieren und ihr Potential einschränken. In Kamerun hat der Ehemann zum Beispiel die gesetzlich verankerte Möglichkeit, seiner Frau eine bestimmte Arbeit oder generell kommerzielle Aktivitäten zu verbieten.  Zu den inneren Gründen zählt auch die in Afrika allgegenwärtige Korruption, soziale Ungleichheiten und die nicht enden wollenden Kriege. Was fehlt ist eine gemeinsame Vision, die alle afrikanischen Länder einbeziehen würde und zu regionalem und kontinentalem Aufschwung führen könnte.

Papst Franziskus sprach in seiner Botschaft zum Welttag der Armen von „tausend Gesichtern“, mit der uns die Armut in der Welt anblickt. Welches Gesicht trägt die Armut in Kamerun?

Marthe Wandou: Die Armut ist in Kamerun weit verbreitet und trifft vor allem die Familien, die von der Landwirtschaft leben. Aber die Armut hat vor allen Dingen ein weibliches Gesicht. Seit einigen Jahren beobachten wir eine regelrechte Feminisierung der Armut: 70 Prozent der Kameruner, die in der Landwirtschaft oder im informellen Sektor arbeiten, sind Frauen. Sie betreiben zum Beispiel kleine Garküchen, verkaufen am Straßenrand Gemüse und Obst. Der Verdienst in diesen Beschäftigungsfeldern ist gering. Doch da viele Frauen keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung haben, gibt es für sie meist keine anderen Arbeitsmöglichkeiten. Generell sind die Frauen in Kamerun weniger gebildet und weniger in traditionellen, politischen oder religiösen Entscheidungsgremien vertreten. Sie sind gefangen in einer Spirale der Armut und haben zu wenige Möglichkeiten, sich daraus zu befreien. In traditionell geprägten ländlichen Regionen können die Frauen zum Beispiel kein Land erwerben und sind nicht erbberechtigt. Die meisten Frauen sind noch weit davon entfernt, über die gleichen Rechte, die gleichen Entfaltungsmöglichkeiten verfügen zu können wie die Männer.

Wo liegen die Gründe dafür?

Marthe Wandou: Das hängt mit traditionellen Rollenbildern zusammen. Gerade in ländlichen Gebieten wird die Frau als Eigentum des Mannes gesehen. Diese Rollenbilder werden durch soziale Konditionierung, bestimmte Verhaltensmuster und diskriminierende Einstellungen gegenüber Frauen weiter zementiert. In Nordkamerun werden die Mädchen zum Beispiel sehr jung verheiratet, oft bereits mit 11 oder 13 Jahren. Nach der Tradition will die Familie das Mädchen aus dem Haus haben, bevor sie ihre Regel bekommt. Denn sie könnte unehelich schwanger werden, und das ist eine Schande für die Familie. Dazukommt, dass Mädchen und junge Frauen häufig sexueller, körperlicher und psychischer Gewalt ausgesetzt sind, die ihre Wurzel in einer fehlerhaften Auslegung der religiösen Texte und negativen kulturellen Praktiken haben. Genitalverstümmelung ist zum Beispiel weit verbreitet.

Inwieweit fördern Terror, Flucht und Vertreibung die Armutssituation noch weiter?

Marthe Wandou: Seit 2014 leidet die kamerunische Bevölkerung unter dem Terror der radikalislamischen Sekte Boko Haram. Vor allem Nordkamerun ist davon betroffen. Es gibt dadurch 199.000 kamerunische Binnenflüchtlinge sowie mehr als 90.000 nigerianische Flüchtlinge in Nordkamerun. Diese Krise hat die Mechanismen der Selbsthilfe in den Gemeinden geschwächt und das gegenseitige Vertrauen und die Solidarität erschüttert. Man muss bedenken, dass die ohnehin wirtschaftlich schwachen aufnehmenden Gemeinden das Wenige, das sie haben, jetzt auch noch mit Vertriebenen und Flüchtlingen teilen müssen. Ein Drittel der Bevölkerung hat noch nicht einmal eine volle Mahlzeit am Tag.  Der Wirtschafts- und Tourismussektor ist auch betroffen, weil es immer weniger möglich ist, sich im Land frei und sicher zu bewegen. Die Region „Extrême Nord“ ist als rote Zone eingestuft worden. Hauptleidtragende sind auch hier die Frauen, die traditionell den grenzübergreifenden Handel betreiben. Zudem nimmt die so genannte genderbasierte Gewalt zu. Das heißt, Frauen und Mädchen werden häufiger Opfer von Vergewaltigungen,  von sexualisierter, körperlicher, emotionaler und auch ökonomischer Gewalt. Frauen sind ja meist von einem „Versorger“ abhängig. Dieser kann ihnen zum Beispiel ihre Tagesration an Essen verweigern, wenn er über ihr Verhalten verärgert ist.  

Wie helfen Sie  bzw. ALDEPA den betroffenen Frauen und Mädchen – ganz praktisch, aber auch auf der politischen Ebene?

Marthe Wandou: Die Organisation ALDEPA setzt sich auf verschiedenen Ebenen für die Rechte der Frauen und Mädchen ein: Ein Schwerpunkt ist Prävention: Wir leisten Aufklärungsarbeit, informieren  verschiedene Akteure wie Polizisten, Richter, Lehrer, Eltern darüber, dass die schlechte Behandlung von Frauen und Mädchen rechtliche Konsequenzen haben kann, stellen die Gesetzestexte zum Schutz der Frauen und Mädchen vor. Wir setzen uns dafür ein, dass Mädchen zur Schule gehen können und fördern „gewaltfreie“ Ausbildung. In einer Studie, die wir gemacht haben, gaben Mädchen an, dass sexueller Missbrauch und Nötigung ebenfalls ein häufiger Grund ist, warum sie die Schule verlassen.  Generell stärken wir Frauen und Mädchen, dass sie selbstbestimmter leben und ihre Potentiale entfalten können. Und wir stehen Mädchen und Frauen zur Seite, die Opfer von Gewalt geworden sind. In den vergangenen Jahren gelang es uns in 230 Fällen von Zwangsverheiratung Minderjähriger einzugreifen und die freigekommenen Mädchen wieder in die Schule zu bringen. Eines der befreiten Mädchen hat in diesem Jahr Abitur gemacht, ein anderes 14 Jahre altes Mädchen hat die Prüfung zur Mittleren Reife erfolgreich bestanden.

Warum engagieren Sie sich für Frauen und Mädchen in Ihrem Land? Was ist Ihre Motivation?

Marthe Wandou: Ich bin in einem Dorf in Nordkamerun aufgewachsen. Die Mädchen meines Alters hatten nicht das Glück, länger in die Schule gehen zu können. Ich habe heute noch die bittere Erinnerung an intelligente Mädchen, die frühzeitig von ihren Eltern aus der Schule genommen wurden. Einige wurden einfach von ihren Eltern zwangsverheiratet, andere gaben auf, weil sie keine Unterstützung von ihren Eltern bekamen. Diese Dinge haben mich traumatisiert, weil ich davon überzeugt war, auch eines Tages nicht weiterlernen zu dürfen. Aber ich sah auch, dass keine meiner älteren Schwestern die Schule verlassen musste und ich träumte davon, meine Mitschülerinnen zu rächen für die Gewalt, der sie ausgesetzt waren. Meine Eltern haben keine Schule besucht, aber mein Vater hat sich als Autodidakt weitergebildet, auch als einer der ersten Christen in der Region. Trotz der Kommentare unserer Nachbarn, die meinem Vater sagten, dass Bildung für Mädchen Zeitverlust und Unsinn sei, ermutigte mich mein Vater weiterzumachen. Die Unterstützung, die ich von meinen Eltern bekam, hat mich außerordentlich motiviert. Eine weitere wichtige Wende in meinem Leben war die Begegnung mit einer Entwicklungshilfeorganisation. Hier erfuhr ich, dass die Dinge, die ich selbst in meinem Dorf beobachtet habe, in vielen anderen Dörfern von Tausenden von Mädchen durchlebt werden. Ich dachte, es ist gut über Entwicklung zu reden, aber solange die Gewalt, die Frauen und Mädchen widerfährt, nicht thematisiert und angegangen wird, kann es eigentlich so etwas wie Entwicklung nicht geben.

Meine Vision für die Zukunft ist, dass jedes Kind, Junge oder Mädchen, eine Chance auf Bildung und Förderung bekommen muss, sowohl von der eigenen Familie als auch vom Staat. So kann jedes Kind sich entfalten und seine Möglichkeiten ausschöpfen.


Weitere Informationen

MISEREOR setzt sich derzeit mit über 107 Millionen Euro in mehr als 600 Projekten weltweit für Frauen, Mädchen und Familien ein. Dabei geht es sowohl um die Prävention von Gewalt und Menschenhandel als auch um die Förderung einkommensschaffender Maßnahmen, um Rechtshilfe und psychosoziale Betreuung für von Gewalt Betroffenen, um Aufklärungsarbeit, Unterricht und Ausbildung. Darunter auch diese Projekte:

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Nina Brodbeck arbeitet bei Misereor in der Abteilung Kommunikation.

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