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Dalit-Proteste in Indien – wie ein Gedenktag Kastenkonflikte wieder aufflammen lässt

Eine gespenstische Kulisse: Die Straßen der indischen Millionenmetropole Mumbai sind wie leergefegt. In einer Stadt, die eigentlich niemals schläft, bleiben die Rollläden der Geschäfte heruntergelassen. Auch die großen Shopping Malls sind weiträumig abgeriegelt.

Das Wort "Jay Bhim auf einer Flagge @ Sandesh Hiwale, Marathi Wikipedian from Maharashtra.

Das Wort „Jay Bhim“ auf einer Flagge @ Sandesh Hiwale, Marathi Wikipedian from Maharashtra.

Busse verlassen das Depot nicht, der Schienenverkehr ist eingeschränkt. Obwohl es ein ganz normaler Wochentag kurz nach der Jahreswende ist. Die Schulen bleiben ebenfalls geschlossen. Stattdessen füllen Protestzüge mit blauen Flaggen die Kreuzungen und breiten Highways in Mumbai. Viele Motorradfahrer, die in Kolonnen durch die Stadt fahren, schwenken stolz „ihre“ Flaggen. Lautstark rufen zig tausende Demonstrierende „Sieg für Bhim“ (Jai Bhim) – und meinen mit ihrem Schlachtruf den Vorkämpfer für die Rechte der Dalits, Dr B.R. Ambedkar.

Auslöser der Unruhen

Verschiedene Dalit-Organisationen, allen voran die Partei des Ambedkar-Enkels Prakash Yashwant, hatten am 3. Januar 2018 zu einem Protesttag und Streik aufgerufen. Einige Teile des indischen Bundesstaates Maharashtra kamen vorübergehend zum Erliegen, u.a. auch Mumbai und Pune. Auslöser für die Demonstrationen waren Auseinandersetzungen um eine Gedenkveranstaltung. Am 1. Januar hatten sich tausende Dalits zum Jahrestag der „Schlacht von Koregaon“ in der Stadt Pune versammelt. Vor 200 Jahren, am 1. Januar 1818, hatten hunderte Dalit-Soldaten auf Seiten der British East India Company siegreich gegen brahmanische Peshwa-Einheiten gekämpft. Für viele Dalits ist die Schlacht auch heute noch Symbol für ihren Kampf um Anerkennung und ihren gleichberechtigten Platz – gerade in der gegenwärtigen Gesellschaft.

Und so bringt das Gedenken ein erstarktes Dalit-Selbstbewusstsein zum Ausdruck. Überzeugten Brahmanen und vielen Hindunationalisten ist der neue politische Stolz der „Kastenlosen“ ein Dorn im Auge: Nach Medienberichten hatten fahnenschwenkende Hindunationalisten die Gedenkveranstaltung in Pune gestört und handgreifliche Auseinandersetzungen angezettelt. Es kam zu Krawallen, in deren Folge mindestens zwei Menschen starben und Dutzende verletzt wurden. Vielen überzeugten Hindutva-Anhängern gelten Dalits noch immer als minderwertig, da sie ihrem Kastendenken nach in der sozialen Hierarchie ganz unten stehen.

Dalit-Zorn und neues Selbstbewusstsein

Von Pune breiteten sich die Proteste sodann im Bundesstaat Maharashtra aus. In Mumbai erreichten sie am 3. Januar ihren Höhepunkt. Die mediale Berichterstattung blieb einseitig, meist wurden die Sachbeschädigungen wie eingeworfene Scheiben und beschädigte Autos hervorgehoben – und die erschwerten Umstände für die Pendler und Autofahrer. Die Gründe für die Eskalation und den Zorn der Dalits blieben hingegen im Dunkeln. Auch die Kastengewalt des indischen Alltags kam in den Medien nicht vor, ebenso wenig die alltäglichen Diskriminierungen, Anfeindungen und Schikanen, mit denen untere Kasten und Dalits zu kämpfen haben.

Auch Ritesh Bansode aus Mumbai, selbst Dalit und Mitdemonstrant, sieht keine Alternative zu den massiven Protesten: „Wenn wir jetzt nichts tun, dann werden uns die höheren Kasten ausradieren.“ Nach Jahrzehnten vieler Versprechen und wenigen Verbesserungen sehen viele den Zeitpunkt gekommen, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen: „So viele Jahre sind vergangen, aber nichts hat sich für uns verändert“, sagt Bansode aufgebracht. So ist der jüngste Dalit-Protest auch ein Versuch der Selbstermächtigung – und seine Wucht ein Weckruf für die indische Gesellschaft.

Über den Autor: Thomas Stauber lebt und arbeitet in Indien.


Dieser Beitrag ist Teil einer Beitragsreihe, die sich im Vorfeld der Fastenaktion 2018 mit politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Hintergründen in Indien auseinandersetzt. Die Fastenaktion 2018 wird gemeinsam mit der Kirche in Indien gestaltet und geht der Frage nach, was wir gemeinsam tun können, damit immer mehr Menschen ein menschenwürdiges und gutes Leben leben können.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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