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„Spenden muss nicht wehtun“

Wo fängt unsere Spendenpflicht an, wo hört sie auf? Sollen wir für die Armen in Afrika oder für Obdachlose in der Innenstadt spenden? Und wie kann uns der Papst dabei inspirieren? Ein Gespräch mit MISEREOR-Chef Pirmin Spiegel.

Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer von MISEREOR.

Herr Spiegel, sind Christen verpflichtet zu spenden?

Die Spende ist eine freiwillige Gabe, ein freiwilliges Zeichen der Solidarität …

… das heißt?

Das heißt: Jede Spenderin und jeder Spender ist frei zu geben. Wobei das Geben und Teilen, also das Spenden, von der biblischen Geschichte her aber schon auch zur DNA des Christseins gehört.

Wie viel müssen wir dann also spenden?

Ich muss bei dieser Frage sofort an das Opfer der armen Witwe im Markusevangelium denken: Sie gibt zwei kleine Münzen in der Synagoge, und Jesus sagt, sie hat mehr gegeben als alle anderen. Ich habe in der Geschichte gelernt: Es muss nicht eine bestimmte Summe, ein bestimmter Prozentsatz unseres Geldes sein, was wir spenden.

Soll also jeder selbst entscheiden, was er gibt, nach bestem Wissen und Gewissen?

Ein nigerianisches Sprichwort sagt: Das Herz gibt, die Hände geben nur her. Wie viel ein Mensch gibt, das hängt immer auch davon ab, was das Herz des Menschen sagt. Wo fängt eine Spendenpflicht an, wo hört sie auf? Das kann nur jeder für sich beantworten. Das hängt von jedem und jeder selbst ab.

Woran können wir uns bei dieser Gewissensentscheidung orientieren?

Ein großer Orientierungspunkt: Laudato si’ …

… die Enzyklika von Papst Franziskus zu Umwelt und Klimaschutz.

Ein entscheidender Punkt darin ist für mich der Gemeinsinn. Wir kennen ja die fünf Sinne: Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Tasten. Aber es gibt eben auch den Gemeinsinn. Das heißt laut Laudato si’: Erde und Schöpfung gehören uns gemeinsam. Der Papst wirft die Frage auf: Was bedeutet dieser Gemeinsinn in der Situation, in der ich lebe? Wie kann ich dafür einen Beitrag leisten? Mercedes Sosa, die berühmte argentinische Sängerin, hat das so ausgedrückt: „Gott, ich bitte dich nur um eins: dass mir das Leiden anderer nicht gleichgültig werde.“

Ist das das Entscheidende: nie gleichgültig zu sein?

Das kann man so sagen. Der Papst entwickelt in seiner Enzyklika einen Zukunftsvertrag, eine Vision von einer Welt, in der niemand zurückbleiben soll. Wenn wir das lesen, können wir uns fragen: Was kann mein Beitrag sein in diesem großen Projekt? Was kann ich dafür tun, dass niemand zurückbleibt – oder, wie es Jesus sagt, dass alle Leben in Fülle haben?

Das kann einen aber leicht überfordern. Wenn man die Vision hat, dass niemand zurückbleiben soll, und gleichzeitig die dramatische Ungleichheit auf der Welt sieht, muss man dann nicht wahnsinnig viel spenden, um die Ungleichheit zumindest ein bisschen besser in den Griff zu kriegen?

Ich würde das Spenden nicht auf Geld reduzieren. Als Christinnen und Christen setzen wir uns für eine größere Gerechtigkeit auf der Welt ein, und da kann Spende vieles sein. Ich kann spenden, indem ich mich ehrenamtlich für Flüchtlinge einsetze. Ich kann für gerechtere Handelsbedingungen kämpfen – bei einer Demonstration oder in einer Partei. Ich kann bewusst einkaufen. Entscheidend ist, dass jeder auf seine Art mithilft, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

Sie haben gesagt, Spenden ist viel mehr als nur Geldgeben. Gilt der Satz aus der Bibel, Christen sollten den Zehnten geben, heute also nicht mehr? Müssen wir nicht den Zehnten unseres Nettogehalts spenden?

Was in der Bibel steht, war eine ganz konkrete Aussage unter anderen sozialen Umständen. In Brasilien, wo ich 15 Jahre lang gelebt habe, gab es auch den Vorschlag, nach dem Zehnten zu leben. Dort haben viele, mit denen ich zusammengelebt habe, einen Sack Reis gegeben. Andere haben fünf Hühner gegeben, wieder andere einen halben Sack Bohnen. Sie alle haben gesagt: Wir wollen einen Beitrag leisten für die Gemeinde, für die Kirche vor Ort. Entscheidend ist, dass wir aufhören, nur um uns selbst zu kreisen. Wenn uns das gelingt, kommen wir auf den Gedanken, mit den Armen zu teilen.

Der Papst hat mal gesagt: „Ich misstraue dem Almosen, das nichts kostet und nicht schmerzt.“ Wie weh muss das Spenden tun?

Spenden muss nicht wehtun. Wenn eine Spende wehtut, kann sie zu einem Opfer verkommen. Ich bin überzeugt: Wenn einen Menschen die Frohe Botschaft begeistert und motiviert, gehören Solidarität und Zuwendung zum Nächsten für ihn dazu. Das Spenden ist für ihn dann Bestandteil der Botschaft. Spenden heißt, aus Überzeugung in der Nachfolge Jesu mit anderen, die in Notlagen sind, zu teilen. Aber es heißt auch, Strukturen zu verändern, damit die Leidenden aus der Notlage herauskommen. Hilfe, die hilft, auf Hilfe zu verzichten.

Auch wenn spenden nicht wehtut: Wie sehr soll es Verzicht bedeuten? Muss ich so viel spenden, dass ich auf einen Urlaub oder auf neue Klamotten
verzichten muss?

Verzicht ist für mich ein schwieriges Wort, weil Verzicht dann bedeutet: weniger Lebensqualität. Ich glaube: Man kann umkehren und sich wandeln, ohne auf Lebensqualität zu verzichten. Spenden kann Verzicht bedeuten, aber nicht Verzicht um des Verzichtens willen, sondern um der größeren Idee wegen, um des Reiches Gottes willen, weil ich in Solidarität mit anderen lebe. Aber obwohl ich verzichte, kann ich trotzdem in den Urlaub fahren und gut essen gehen.

An wen sollen wir eher spenden: an den Obdachlosen in der eigenen Innenstadt oder an die Armen in Afrika?

Das große Ziel ist, niemanden zurückzulassen – in Deutschland wie in Ländern Afrikas. Natürlich können Armut und Ausgrenzung in Afrika bedeuten: kein Zugang zu Gesundheitsversorgung, vorzeitiger Tod. Das ist bei uns anders. Dennoch dürfen wir die Armen nicht gegeneinander ausspielen. Wir reden hier bei MISEREOR nicht mehr vom geografischen Süden und Norden, sondern wir sagen: Nord und Süd sind soziale Begriffe. Es gibt Ausgrenzung und Armut im Norden wie im Süden. Es gibt überdimensionierten Reichtum im Norden wie im Süden. Sollten auch Christen, die selbstnur ganz wenig haben, etwas spenden? Schon, ja. Wer wenig Geld hat, der kann auch Zeit spenden, ein Lächeln oder eine Umarmung. Ich glaube: Teilen kann eigentlich jeder. Das habe ich in Südamerika und auch bei uns in Deutschland immer wieder erlebt.

Wann zum Beispiel?

Kürzlich bin ich hier in Aachen in eineBäckerei gegangen, vor der eine Gruppe Obdachloser gesessen hat. Es war schon ein bisschen kalt und recht dunkel. Ich hatte Obst dabei, das wir teilten, zusammen mit Brot. Das Obst, das ich einem der Obdachlosen gab – das hat er sofort mit den anderen, die da waren, geteilt.

Hat Sie diese Geste überrascht?

Naja, als ich noch Pfarrer war in Lautzkirchen im Saarland, habe ich eine ganz ähnliche Erfahrung gemacht. Wir hatten Erstkommunion, und jedes Kind sollte ein Brot haben. Während des Predigtgesprächs wollten wir symbolisch eine kleine Szene darstellen. Aber wir hatten zwei Brote zu wenig; irgendwas ist da schiefgelaufen, wir hatten wohl
falsch gezählt. Da haben die Erstkommunionkinder sofort ihr Brot geteilt. Jeder hat etwas von dem gegeben, das er hatte. Das fand ich wunderschön. Da ist für mich das spürbar geworden, worum es bei Communio, bei Gemeinschaft geht – sowohl bei der Erstkommunion wie vor der Bäckerei. Irgendwie habe ich’s erwartet, aber ich glaube, es ist leider nicht mehr selbstverständlich.

Die Deutschen sind aber doch nach wie vor eifrige Spender, oder?

Die Quantität der Spenden nimmt zu – obwohl die Zahl der Spender abnimmt. Das heißt also: Sehr viele Menschen sind bereit, jedes Jahr mehr zu geben, mehr zu teilen. Sehr viele Menschen wollen immer deutlicher einen Beitrag leisten für eine Solidarität in unserer kranken Weltgemeinschaft. Sie wollen helfen, dass niemand zurückbleibt. Das zeigt mir, dass Not die Menschen nach wie vor berührt. Und das ist für mich eine gute Botschaft.

Das Interview führte Andreas Lesch und erschien zuerst in „Der Kirchenbote“ am 4.2.2018.


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Unter www.misereor.de/spenden erfahren Sie mehr über unsere Spendenprojekte, wie Ihre Spenden eingesetzt werden und wie Sie spenden können.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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