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Indien: Ein Tageslohn für die Gastfreundschaft

Patna, die Hauptstadt des indischen Bundesstaates Bihar, liegt in einer der ärmsten Regionen des Landes. Hier besuchen wir während einer Multiplikatorenreise anlässlich der kommenden Fastenaktion die MISEREOR-Partnerorganisation Jan Kalyan Gramin Vikas Samiti (JKGVS), die geleitet wird von Sister Dorothy Fernandes. Wir, das sind zwei Kollegen und eine Kollegin von MISEREOR sowie eine Gruppe von Multiplikatorinnen und Multiplikatoren aus dem Erzbistum München und Freising, wo wir die Fastenaktion 2018 eröffnet haben.

Wir lernen die Herausforderungen der Bauarbeiter kennen, die jeden Tag aufs Neue versuchen, als Tagelöhner eine Arbeit zu finden. Sie haben sich organisiert, um ihre Rechte gegenüber der lokalen Regierung besser durchsetzen zu können. Die Bedingungen sind derzeit schlecht in Patna. Und diejenigen, die uns gegenüber sitzen, haben an diesem Tag keine Arbeit gefunden. Ihre Familien, die teilweise noch im Umland auf Geldzahlungen warten, müssen die Männer vermutlich erneut enttäuschen. Was sie sich wünschen, sind eine kleine Wohnung und zwei Mahlzeiten am Tag für sich und ihre Familie. Das ist es, was ihnen zu einem guten Leben fehlt.

Namasté

Im weiteren Verlauf des Vormittags werden wir sehr herzlich von ca. 30 Frauen und Männern in einem Armenviertel von Patna empfangen. Die Kinder sind – bis auf die ganz kleinen – alle in der Schule. Eine ältere Frau berichtet uns, dass es diese Siedlung bereits seit den 1980er Jahren gibt. Ihr Gesicht ist gezeichnet von harten Lebenserfahrungen. Doch ihr starker Ausdruck erzählt auch von den erzielten Erfolgen. Sie ist die Leiterin der Gemeinschaft der Bewohnerinnen und Bewohner. Immer wieder wurde die Siedlung durch die Behörden geräumt und die Häuser zerstört, aber jedes Mal haben sich die Familien dagegen erfolgreich gewehrt und ihre Behausungen neu errichtet.

Im Armenviertel von Patna© Gulde | MISEREOR

Im Armenviertel von Patna © Gulde | MISEREOR

Inzwischen haben sie mit finanzieller Unterstützung der Stadt eine eigene Schule und ein Gemeindehaus gebaut, das sie z. B. für Versammlungen nutzen können. Jeweils zehn Häuser haben eine Wasserstelle, an der die Familien frisches Wasser zapfen können. Auf dem Platz, an dem wir eingeladen werden uns niederzulassen, steht auch eine solche Pumpe. Immer wieder können wir beobachten, wie Kinder und Erwachsene zum Wasserholen oder Waschen kommen oder nur für einen kleinen Schluck Wasser zum Trinken ihre Hände in den Wasserstrahl halten. Die Familien haben ein Dach über dem Kopf – mal nur aus Folien bestehend, mal stabiler gebaut –, Strom und Wasser. Die Kinder erhalten eine Schulbildung, die vielen von ihnen schon ermöglicht hat, ein Studium erfolgreich abzuschließen und damit eine feste Anstellung zu finden. Zwei Krankenhäuser in der Nähe sichern die Gesundheitsversorgung. Dass sie ihre Rechte kennen und zunehmend auch einfordern, ist ein Erfolg aus der Zusammenarbeit der Gemeinschaft mit der Organisation von Schwester Dorothy, dem MISEREOR-Partner JKGVS.

„Wenn ihr uns besuchen kommt, ist Euer Gott bei mir und mein Gott bei Euch zu Besuch“

Zum Abschluss des Austausches mit den Menschen, die sich aus Anlass unseres Besuches an diesem Morgen versammelt haben, bedanken wir uns, wie auch schon bei anderen Besuchen in den vergangenen Tagen. Wir sind dankbar, dass die Frauen und Männer uns haben Anteil nehmen lassen an ihrem Leben und dass sie sich Zeit für uns genommen haben. Doch dann nimmt die Begegnung eine Wendung.

Eine Frau steht auf und berichtet, dass sie für unseren Besuch darauf verzichtet hat, heute als Tagelöhnerin Arbeit zu suchen. Mir schießt die Frage durch den Kopf, wann ich bereit wäre, für einen mir fremden Gast auf einen Tageslohn zu verzichten? Und sie erklärt uns auch, warum für sie unser Besuch so bedeutsam ist: „Wenn ihr uns besuchen kommt, ist Euer Gott bei mir und mein Gott bei Euch zu Besuch. Und was kann es Wichtigeres im Leben geben.“ Wir alle in der Gruppe sind berührt, fast beschämt von dieser Wertschätzung und tiefen Verbundenheit, die diese Frau uns – für sie bis vor 15 Minuten wild fremden Menschen aus dem fernen Europa – gegenüber ausspricht.

© Gulde | MISEREOR

© Gulde | MISEREOR

Wir möchten den Menschen etwas zurückschenken. Aber wie geht Kommunikation zwischen zwei Gruppen, die aus unterschiedlichen „Welten“ kommen und unterschiedliche Sprachen sprechen. Wir wählen als Brücke die Musik und singen den Kanon „Froh zu sein, bedarf es wenig“. Dieser hat uns bereits in den vergangenen Tagen bei unseren Projektbesuchen hier in Indien begleitet: Wie wenig brauchen die Menschen hier, um „froh zu sein“, um ein für sie gutes Leben führen zu können! Nach unserem Lied steht eine Frau auf und trägt folgendes Lied vor, mit dem sie um Unterstützung für ein besseres Leben bittet:

Keiner kam mir zu Hilfe, lieber Gott …

Mein Boot drohte zu sinken …

Ich bin so traurig, dass es mir Angst macht, lieber Gott

Ich hoffte, jemand würde mir helfen …

Bitte nimm meine Schmerzen von mir, lieber Gott …

Ich werde Hilfe finden, damit ich wieder leben kann

Gott Shiva[1], Dir zu Füßen wenn ich doch Schutz finden könnte, Dir zu Füßen, lieber Gott

Dort würden meine Sorgen verschwinden und ich wäre gesegnet

In dieser Welt des Maya[2] hätte mein festgefahrenes Boot einen Steuermann

Wenn Du, lieber Gott, mir helfen würdest, ans Ufer zu kommen

Ich bin eine Sünderin, lieber Gott, Du bist unberührt und rein

Nimm meine Sünden von mir, oh Gott, und lass mich Deinen Namen tragen

Wir sind berührt von diesem persönlichen Zeugnis, der Sprache und diesem tiefen Vertrauen der Menschen über alle geografischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Grenzen hinweg. Wir antworten gerne noch einmal, diesmal mit dem Kanon: „Wo zwei oder drei“. Dieser drückt für uns die Verbundenheit zwischen den Religionen und Völkern und die Beziehung zu Gott aus, die uns –das erleben wir hier in Indien – alle verbindet, wenn wir auch unterschiedlichen Religionen folgen. Eine kleine Gruppe von Frauen aus der Siedlung antwortet mit einem traditionellen Lied aus ihrer Region in ihrer Muttersprache. Starke und stolze Frauen, die bei aller Armut und Bedrohung vor Vertreibung schon viel für sich und ihre Familien erreicht haben.

Heute schon die Welt verändert?

Das ist das Leitwort der MISEREOR Fastenaktion 2018. Für uns hat sich in dieser Begegnung unsere Welt spürbar verändert. Dhanyavaad – Danke an unsere Freundinnen und Freunde in Patna. Wir werden Euch in unseren Herzen behalten und Eure Geschichte unseren Freundinnen und Freunden in Deutschland erzählen.

Und vielleicht sind auch wir bereit, einen Tageslohn für die Menschen in Patna einzusetzen.

Über den Autor: Franz Gulde ist Leiter der Abteilung Bildung und Pastoralarbeit bei MISEREOR

Das Gebet wurde aus dem indischen Englisch von Jutta Hajek und MISEREOR übersetzt

[1] Anm. d. Übers.: Shiva – eine der wichtigsten Gottheiten des Hinduismus – ist ein Gott der Gegensätze. Er löst die Welt auf, bevor sie neu erschaffen wird.

[2] „Maya“ steht in der indischen Vedanta-Philosophie für eine Kraft, die Illusionen oder Täuschungen hervorruft.


Gemeinsam mit der Kirche in Indien geht MISEREOR mit der Fastenaktion 2018 der Frage nach, was wir gemeinsam tun können, damit immer mehr Menschen ein menschenwürdiges und gutes Leben leben können.

www.misereor.de/fastenaktion >

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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