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Wer hat Marielle Franco und Anderson Gomes ermordet?

Regina Reinart von MISEREOR berichtet aus Rio de Janeiro von einer außergewöhnlichen Gedenkfeier und Protestaktion zu Ehren der vor einem Monat ermordeten Stadträtin Marielle Franco und ihrem Fahrer Anderson Gomes.

Wer brachte Marielle um? Diese Frage beschäftigt Rio einen Monat nach der Ermordung der beliebten Stadträtin immer noch. Foto: Reinart/MISEREOR

Von den MISEREOR-Partnern in Rio de Janeiro erfuhr ich, dass sie und viele andere sich am Samstagmorgen zum Sonnenaufgang an wichtigen öffentlichen Plätzen der Metropole treffen und Marielle und Anderson gedenken wollen. Niemandem im Land muss erklärt werden, wer die beiden waren. Alle wissen nun, wofür die ausdrucksstarke Menschen- und Frauenrechtlerin stand und wer der ebenso politisch engagierte, junge Vater und Ehemann war. In ganz Brasilien wurde ihrer heute im Rahmen von Gedenkfeiern, Protestmärschen und politischen Debatten gedacht.

Menschenrechtsverletzungen sichtbar machen

Mitten in Rio – am Largo do Machado – treffe ich auf ein kleine, aber sehr bedeutungsvolle Menschengruppe: Anielle Franco – die Schwester von Marielle, Guilherme Boulos – der Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei (PSOL), den bundesstaatlichen Abgeordneten Marcelo Freixo (PSOL) sowie enge Vertraute von Marielle – Tarcísio Motta (PSOL) und Talíria Petrone (PSOL), Stadträtin von Niterói. Ihr Aufruf ist deutlich: Die Ziele von Marielle gilt es weiterzuverfolgen. Es geht um die Rechteverteidigung der Ausgegrenzten und um das Sichtbarmachen der Menschenrechtsverletzungen, insbesondere in den Favelas im Großraum Rio. Franco, Boulos, Freixo, Motta und Petrone – sie alle geben Interviews, sprechen miteinander, schweigen, weinen und sind sich gegenseitig Stütze. Sie alle wollen nur eins: „Marielle vive! Anderson vive!“

Guilherme Boulos, Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei (PSOL) und der Abgeordnete Marcelo Freixo rufen dazu auf, die Ziele Marielle Francos weiterzuverfolgen. Foto: Reinart/MISEREOR

„Wie viele Weitere müssen sterben, damit dieser Krieg aufhört?“

Boulos weist auf die Krise der Demokratie in Brasilien hin und fordert Gerechtigkeit. Freixo sagt zu Recht, dass viele Menschen erst nach Marielles Tod über ihre wichtige Position und ihre Arbeit erfuhren. Es sei nun wichtig, sich ebenso stark für Geschlechtergerechtigkeit und gegen Rassismus einzusetzen. Motta fließen die Tränen, immer wieder muss er schlucken bis er schließlich auffordert, sich von Marielles Lächeln anstecken zu lassen: „Wo immer sie war, was immer sie tat, sie strahlte etwas ganz Besonderes aus und schaffte es, inmitten der Stadtratsmitglieder in Anzug und Krawatte, Tiefe und Klarheit in die Diskussionen zu bringen.“ Es läge an uns, ihre Werte aufrechtzuhalten. Die Schwester der Ermordeten erzählt, wie schwer der Alltag geworden ist, doch die Präsenz von Marielle sei jeden Augenblick spürbar. Immer wieder rufen sie laut in die Menschenmenge: „Marielle ist hier!“ Und sie fügen hinzu: „Marielle fragte und auch ich frage an, wie viele Weitere müssen sterben, damit dieser Krieg aufhört? Marielle ist hier, jetzt…!“ Und wir antworten: „und immerdar“! Auf Portugiesisch reimt sich der Spruch und wird zur Mantra, die mich sicherlich noch Tage und Wochen begleiten wird:

„Marielle perguntou – eu também vou perguntar,
quantos mais têm que morrer – pra esta guerra acabar?
Marielle presente, agora e sempre!Marielle semente!“

„Marielle ist hier!“ Anielle Franco, die Schwester der Ermordeten, erzählt, die Präsenz von Marielle sei immer noch zu spüren. Foto: Reinart/MISEREOR

Auf dem für Rio typischen Platz begegne ich dem 17-jährigen Pablo Fontes, der Poster mit Fotos von Marielle und Anderson anbringt und Aufkleber mit Marielles Lächeln verteilt. Er fordert die Aufklärung des Mordes der beiden Opfer: „Wir wissen nicht, wer sie ermordet hat, doch eines ist klar, es war ein Auftragsmord. In der Schule diskutieren wir seither jeden Tag, was das Ganze für uns als schwarze Jugendliche in dieser Stadt bedeutet. Wir stellen die Frage nach der Gerechtigkeit. Marielle ist uns ein großes Vorbild“. Niemals hätten sich die Verwandten, Freundinnen und Weggefährten von Marielle vorstellen können, dass die hier herrschende Brutalität auch einmal Marielle treffen und umbringen würde.

Marielle stand für die Mehrheit von Rios Bevölkerung

Die MISEREOR-Partner trauern um Marielle und Anderson. Dies wird besonders deutlich, als ich ihnen das MISEREOR-Hungertuch von Chidi Kwibiri überreiche, welches den Titel „Ich bin, weil Du bist“ trägt. Marielles Wahlspruch war „Ich bin, weil wir sind“. Sie hat diesen Satz gelebt, sie vertrat als schwarze Stadträtin die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung von Rio, deren Alltag von Gewalt und Ungerechtigkeit geprägt ist. Dass in Rio Kriegszustände herrschen, ist allen klar, die diesen Sonnenaufgang gemeinsam erlebt haben. „Doch der Krieg muss aufhören“, fordert Motta. Und in der Tat kommt das, was mich während der vergangenen zwei Wochen auf meiner Dienstreise begleitete, einem Krieg gleich: Heftige Auseinandersetzungen im Rahmen der Inhaftierung von Lula, erneute Massaker in brasilianischen Gefängnissen sowie die konstanten Landkonflikte im städtischen und urbanen Raum. Aggression und Kriminalisierung sind alltägliche Erfahrungen derer, denen ich in diesen Wochen begegnet bin. „Die Milizen und das Militär kontrollieren unsere Stadtteile“, meint Pablo und ruft laut: „Marielle fragte und auch ich frage an, wie viele Weitere müssen sterben, damit dieser Krieg aufhört? Marielle ist hier, jetzt…!“ Und wir alle rufen dieses Mal noch lauter: „und immerdar!“

Über die Autorin: Regina Reinart arbeitet als Referentin für Brasilien bei MISEREOR.

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Regina Reinart arbeitet als Länderreferentin Brasilien bei Misereor.

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

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    Schöner Text, der uns den Unterschied zu hier verstehen hilft, und auch, in welcher Atmosphäre sich das Leben in Rio & Brasilien abspielt!

  2. Avatar-Foto

    Ein authentischer Eindruck dessen, was auch ich in Gesprächen mit Misereor-Partnern und Aktiven in den letzten beiden Wochen in Rio erlebt habe. Die Betroffenheit und Wut über Marielles Tod ist sehr groß und die Entschlossenheit, in ihrem Sinne die Gesellschaft insbesondere in „ihrer“ Stadt Rio zu verändern, mindestens genauso. Die alltägliche Gewalt ist enorm, nimmt zu und man fragt sich, wie lange die Menschen das noch tolerieren? Bewundernswert ist der Mut all deren, die auf die Straße gehen um sich zu engagieren und damit selbst in Gefahr begeben!

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