Freiwilligendienst andersherum: Maurice aus Ruanda und Wilver aus Kolumbien sind auf Einladung von MISEREOR für ein Jahr nach Köln gekommen. Was sie beim Bundes-Freiwilligendienst erleben und wie sich ihr Blick auf Deutschland verändert hat, seit sie hier sind.
„Hey, Ashear, keine Fouls, wir sind ein Team!“ Wilver Valencia steht im Tor, schwitzt, lacht und versucht, die Angriffe der um ihn herum tobenden Kinder abzuwehren. Ab und zu greift er beschwichtigend ins Spiel ein, aber nur, wenn es allzu wild wird. Acht Jungs und ein Mädchen stehen heute gemeinsam mit dem 21-Jährigen auf dem Fußballplatz. Sie kommen aus Afghanistan und Syrien, aus Nigeria und Albanien, aus Deutschland und – so wie Ashear – aus dem Irak. „Wir bringen Kinder aus unterschiedlichen Schichten, Ländern und Altersgruppen zusammen“, sagt Wilver.
Jeden Mittwochnachmittag halten Wilver und seine Kollegen von der Kölner Caritas – die als Einsatzstelle des Freiwilligenprogramms fungiert – mit ihrem bunt bemalten Ford Transit auf dem Rathenauplatz unweit des Südbahnhofs. Im Gepäck: Bälle und Bobbycars, Federball- und Hockeyschläger, Mal- und Bastelsachen, Gesellschaftsspiele. Ein mobiles Freizeitangebot, das nicht nur Jungs und Mädchen aus den umliegenden Unterkünften für Geflüchtete anlockt. „Wir sind offen für jeden, der Lust hat“, sagt Wilver. „Ich mag die Atmosphäre, hier wird immer viel gelacht.“ Zeit für lange Erklärungen hat er nicht, seine Mannschaft liegt hinten, er muss sich aufs Spiel konzentrieren, wenn er die Partie noch retten will.
Die Arbeit mit Kindern – für Wilver Valencia eine völlig neue Erfahrung. „Am Anfang war es nicht so einfach, ich musste erst lernen, mich durchzusetzen und mir Gehör zu verschaffen, vor allem, weil ich die Sprache nicht so gut konnte“, erinnert er sich. In seiner Heimat Kolumbien hat Wilver BWL studiert, der Dienst in Deutschland bedeutet für ihn eine willkommene Unterbrechung vom Unialltag und die Chance auf neue Perspektiven. Die Idee, sich für den Einsatz zu bewerben, kam ihm eher zufällig, nach einer Begegnung mit deutschen Freiwilligen in Kolumbien. „Die waren so begeistert, dass ich das auch machen wollte – nur eben andersherum.
In Deutschland kannst du offen sagen, was du denkst
Eine konkrete Vorstellung von seinem Einsatzland hatte er bei seiner Abreise nicht. Heute, acht Monate später, assoziiert er mit Deutschland vor allem Ordnung und ein funktionierendes politisches System: „Hier kannst du offen sagen, was du denkst, in Kolumbien wirst du dafür getötet.“ Doch so positiv wie zu Beginn ist Wilvers Deutschlandbild nicht mehr: „Es ist sehr schwer, hier Freunde zu finden. Die Leute erscheinen mir oft ein bisschen kühl und abweisend, man trifft sich nicht spontan auf der Straße, wie in meiner Heimat. Ich glaube, die Menschen sind insgesamt einsamer – für Geselligkeit und Freundschaften haben sie oft keine Zeit.“
Auch der 26-jährige Maurice Dieu-Sauve aus Ruanda ist als Freiwilliger für die Kölner Caritas im Einsatz. Heute steht er im Jugendcafé Bugs in der Lindenstraße hinter dem Tresen. Ein heller und freundlicher Ort, die Wände sind in Rottönen gestrichen, es gibt kleine Bistrotische und eine Sofaecke, Billard, Kicker und ein Klavier. Kaffee und Eisschokolade kosten hier einen Euro, Apfel- und O-Saft gibt es für 1,10 Euro. Das Café ist ein Treffpunkt für junge Geflüchtete, aus Syrien etwa, Somalia, Afghanistan. Sie werden bei der Freizeitgestaltung unterstützt und beim Ankommen, können Sprachangebote nutzen und Hilfe bekommen in Krisensituationen, bei Anträgen und Bewerbungen. „Es ist ein Ort, wo sie ihren Horizont erweitern, sich weiterentwickeln können“, sagt Maurice. „Davon gibt es viel zu wenige, wenn du als Geflüchteter neu und in der Fremde bist.“ Dass er selbst aus einem anderen Land kommt, hat ihm bei seiner Arbeit hier oft geholfen, erzählt er – um Vertrauen aufzubauen und einen Zugang zu den Jugendlichen zu finden.
Der Freiwilligendienst zeigt, dass Menschen aus südlichen Ländern nicht zwangsläufig Flüchtlinge sind
In Ruanda hat Maurice Theaterwissenschaften studiert und zahlreiche Bühnenprojekte mit Kindern und Jugendlichen auf die Beine gestellt. Kenntnisse, die er auch in Köln einbringen konnte: Zwei Stücke hat er hier in den vergangenen Monaten inszeniert und gemeinsam mit 12- bis 16-jährigen Geflüchteten Choreografien erarbeitet zu Themen wie Menschlichkeit und Heldentum in der globalen Gesellschaft. Ein großer Erfolg und eine gute Erfahrung, für alle Beteiligten. „Ich glaube, der Freiwilligendienst kann helfen, das Bild des Ausländers in Deutschland positiv zu verändern“, sagt Maurice. „Er zeigt, dass Menschen aus südlichen Ländern nicht zwangsläufig Flüchtlinge sind. Dass sie hier sind, um etwas zu geben – nicht, um den Deutschen etwas zu nehmen.“
Rassismus und Diskriminierung, damit wurde Maurice in den vergangenen Monaten mehrfach konfrontiert. Abends in der Schlange vor dem Club, als der Türsteher alle anderen Partygäste willkommen hieß und nur ihm den Zutritt verwehrte. Oder beim Feierabendbier mit Kollegen, als ihn ein Kneipenbesucher anpöbelte. „Bevor ich nach Köln kam, hatte ich, wie die meisten Afrikaner, ein sehr positives Bild von Europa im Kopf“, erinnert sich Maurice. Mittlerweile sieht er viele Dinge differenzierter – auch das Thema Umweltschutz. „Da sind die Deutschen sehr engagiert, das ist toll. Aber gleichzeitig gibt es viele europäische Unternehmen, die mit ihrer Produktion der Natur in Afrika oder Südamerika sehr schaden, durch Emissionen und den Abbau von Bodenschätzen.“ Hier wünscht er sich mehr Engagement von hiesigen Politikern, sagt Maurice: „Die denken oft zu eurozentristisch. Das Wohl der globalen Gemeinschaft haben sie nicht im Blick.“
Auch dass in Europa „jeder ständig fliegt, obwohl die Entfernungen so gering sind“, empfindet der junge Ruander als absurden Widerspruch zum weit verbreiteten Umweltbewusstsein. „Bei uns ist der Zug das günstigste Verkehrsmittel. Hier sind Bahnfahrkarten oft teuer als Flugtickets – verrückt!“ Dass Deutschland nicht immer überall führend ist, sondern ganz im Gegenteil, auch die sogenannten Entwicklungsländer Vorbildfunktion haben können, ist eine Erkenntnis, die sich bei Maurice Dieu- Sauve erst im Laufe seines Freiwilligendienstes eingestellt hat: „Plastiktüten sind bei uns in Ruanda zum Beispiel schon seit Jahren verboten.“ Vier Monate bleiben Maurice und Wilver noch, bevor sie zurückkehren in ihre Heimatländer. Bis dahin wollen sie ihr Gastland jeden Tag ein Stück mehr erkunden. Auch wenn einige Dinge ihnen wohl für immer fremd bleiben werden, wie Wilver sagt: „Zum Beispiel, dass sich die Deutschen über den Lärm spielender Kinder aufregen. Das ist in Kolumbien undenkbar.“
Über die Autorin: Gesa Wicke ist Redakteurin beim Deutschlandfunk in Köln. Zuvor hat sie als TV- und Hörfunkautorin für den NDR berichtet. Nach dem Abitur ist sie für ein Freiwilligenjahr nach Sizilien gegangen, jetzt lebt sie für ein paar Monate wieder dort. Während der Begegnungen mit Maurice und Wilver haben sie besonders die lebhaften Diskussionen der beiden über ihr Deutschlandbild beeindruckt.
Über die Fotografin: Bettina Flitner lebt in Köln und arbeitet als Fotografin viel im Ausland. Flitner stellt die Menschen konsequent in den Mittelpunkt ihrer Arbeit und ist vor allem durch ihre Porträtserien und sozialpolitischen Essays bekannt. Sie arbeitet seit langem mit MISEREOR zusammen und war auch für die vergangenen Ausgaben von frings unterwegs.
Gegenrichtung
Seit 2016 bietet MISEREOR als Aufnahmeorganisation seinen Partnern im Süden an, junge Erwachsene für ein Jahr nach Deutschland zu entsenden und ein Freiwilligenjahr in einer sozialen Einrichtung in Köln zu verbringen. Das soll die Einbahnstraße im entwicklungspolitischen Freiwilligendienst aufheben und die Chancengleichheit junger Menschen weltweit fördern. Das Eintauchen in eine fremde Kultur bietet den Freiwilligen tiefgreifende Erfahrungen, die sie nach der Rückkehr in ihren Herkunftsländern weitergeben.
Mehr Informationen dazu gibt es unter: www.misereor.de/freiwilligendienst >
Dieser Artikel erschien zuerst im MISEREOR-Magazin „frings.“ Das ganze Magazin können Sie hier kostenfrei bestellen >