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Zukunftsfähiges Deutschland: Als Misereor Nachhaltigkeit zum großen Thema machte

Vor 22 Jahren lösten Misereor und der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit ihrer gemeinsam herausgegebenen Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ eine kontroverse Debatte über Umweltschutz und Nachhaltigkeit aus. Die zum Teil drastischen Forderungen nach einer grundlegenden Umsteuerung unserer Lebens- und Wirtschaftsweise stießen neben Lob auch auf Unverständnis. Was hat die Studie langfristig verändert? Ist sie heute überhaupt noch aktuell? Über diese Fragen sprachen wir mit Bernd Bornhorst, Leiter der Abteilung Politik und Globale Zukunftsfragen bei Misereor.

Bernd Bornhorst, Leiter der Abteilung Politik und globale Zukunftsfragen bei Misereor. © Misereor

Ist es vermessen, wenn man sagt, dass zentrale Inhalte der Studie, die 1996 für utopisch und weltfremd gehalten wurden, heute weitgehend unstrittig sind und irgendwie auch in Regierungserklärungen und Ministerreden vorkommen?

Bernd Bornhorst: Das ist in gewisser Weise richtig, teilweise aber auch ein Problem. Die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ (ZD) war ein großer Wurf, der genau zur richtigen Zeit kam. Zum damaligen Zeitpunkt waren Fragestellungen bezüglich einer nachhaltigen Entwicklung  – und erst recht deren Verknüpfung mit internationalen  entwicklungspolitischen Herausforderungen  – ja noch längst nicht so präsent wie heute. Heute werden Ausdrücke wie „Nachhaltigkeit“ und „Nachhaltige Entwicklung“ geradezu inflationär gebraucht und kommen in fast jeder Rede oder Erklärung vor. Das ist positiv, weil es zeigt, dass man dem Thema nicht mehr entgehen kann, wenn man glaubwürdig Politik machen will.  Negativ ist, dass es oftmals bei den Absichtserklärungen bleibt.

Welche Langzeitwirkung hat diese Studie?

Bornhorst: ZD war die erste wissenschaftlich fundierte Nachhaltigkeitsstrategie für Deutschland, die diese Frage verband mit der Nord-Süd-Dimension. Ohne unbescheiden wirken zu wollen, kann man sicher sagen, dass viele wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Diskussionen, die heute zu diesen Themen geführt werden, hier ihren Ursprung  oder wenigstens einen entscheidenden Katalysator gefunden haben.  Vielleicht kann man das ganz gut an der Person von Angela Merkel deutlich machen, die damals als Umweltministerin dabei war, als die Studie der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und die das Thema auch heute noch beschäftigt.

Eine weitere Langzeitwirkung war sicher auch die heute nahezu selbstverständliche Integration von ökologischen (und mittlerweile auch klimapolitischen) Fragestellungen in die Entwicklungszusammenarbeit und umgekehrt. Und schließlich ist das Arbeiten in vielleicht zunächst ungewöhnlichen Allianzen, wie damals mit dem BUND und dem Wuppertal-Institut für uns heute ganz normal, wenn es darum geht, gemeinsam Wege in eine nachhaltige Zukunft für alle Menschen zu gehen.

Sind ihre Inhalte nach wie vor gültig oder haben sich die Gesamtvoraussetzungen so verändert, dass der Text heute ganz anders geschrieben werden müsste?

Bornhorst: ZD hat die  Debatte um das Spannungsfeld zwischen planetarischen Grenzen und globaler Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit aufgeworfen. Die Grundaussagen und -annahmen dieses Spannungsfeldes gelten noch heute. Das betrifft  sowohl den analytischen Teil der Studie als auch den Teil, der von Reduktionszielen und qualitativen Zielvorstellungen spricht. Die Prinzipien von Effizienz, Suffizienz und notwendigen Strukturveränderungen bleiben aktuell. Zusätzlich haben wir heute aber z.B. auch den  Aspekt der kulturellen und persönlichen Haltungsveränderung stärker im Blick.

Manche Annahmen waren natürlich etwas zu optimistisch, und sicher würde man jetzt die Systemfrage, also die Frage nach dem, was wir heute die große sozio-ökonomische Transformation nennen, deutlicher stellen. Natürlich wird die Bedeutung der Digitalisierung auch im Kontext von Nachhaltigkeitsfragen noch nicht sehr intensiv beleuchtet. Und schließlich stellt sich die Frage, in welchen internationalen Bezügen und Systemen wir denn die notwendigen Übereinkünfte aushandeln und vereinbaren wollen, heute anders als damals.

Wie zukunftsfähig ist Deutschland im Jahr 2018 aufgestellt?

Bornhorst: Das Glas ist aus meiner Perspektive betrachtet leider noch nicht einmal halbvoll. Natürlich sind wir weit gekommen, wenn wir z.B. den Ausbau der erneuerbaren Energien, den Ausstieg aus der Atomkraft oder die neue Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung betrachten. Aber wie wenig haben wir erreicht, wenn wir z.B. an die Langsamkeit beim Kohleausstieg, beim Artenschutz, in der Verkehrswende oder im Ausbau des Biolandbaus denken. Leider sind die Beharrungskräfte immer noch größer, als das Durchsetzungsvermögen derer, die nach vorne blicken. Sehr deutlich wird das alles am sogenannten Erdüberlastungstag, der bei uns in Deutschland bereits sehr früh, Anfang Mai, erreicht ist. Ab dann konsumieren und wirtschaften wir über unsere planetarischen Grenzen hinaus. Das heißt, wir leben immer weniger nachhaltig – darüber kann auch kein Verbot von Plastiktüten hinwegtäuschen.  Das alles zeigt, dass wir verstehen müssen, dass es in der Nachhaltigkeitsdebatte um eine politische Auseinandersetzung geht, nicht primär um eine technische. Und daher müssen wir Bürgerinnen und Bürgern auch deutlich machen, was wir erwarten.

Wer trägt die Hauptverantwortung dafür, dass Deutschland seine Klimaziele für 2020 deutlich verfehlen wird?

Bornhorst: Meiner Meinung nach direkt natürlich die Politik, die die notwendigen politischen Entscheidungen nicht trifft, nicht klar genug trifft, oder hinauszögert. Z.B. Richtwerte für  Emissionen von PKW festzulegen. Umzusteuern in der Verkehrspolitik und der Landwirtschaft. Aus der Kohle auszusteigen. Indirekt dahinter spielen aber natürlich jene Wirtschaftskreise eine unrühmliche Rolle, die möglichst lange an den alten Modellen festhalten wollen und dementsprechend enorme Lobbyanstrengungen Richtung Politik unternehmen, um notwendige Veränderungen zu verhindern. Um möglichst lange Gewinne mit dem erzielen zu können, was sie immer schon gemacht haben, verspielen sie ihre eigene und unser aller Zukunft. Das sieht man sehr plastisch in der Automobilindustrie und bei den Energieversorgern.

Wenn es um den Klimaschutz, aber auch den Artenschutz geht, häufen sich die düsteren Nachrichten. Kriegen wir noch die Wende zum Besseren hin, oder sind bestimmte negative Prozesse mit all ihren Folgen irreversibel?

Bornhorst: Die Zerstörungsdynamik ist leider ungeheuer stark und sehr viel schneller, als manche notwendige politische Entscheidung getroffen wird. Manches lässt sich schon nicht mehr auffangen, was wir an Verlust von Natur und Arten erleben. Dennoch besteht Hoffnung. Die Klimaexperten sprechen von Kippschaltern im globalen System, die einmal umgelegt in eine nicht mehr steuerbare Veränderung unseres Planeten führen könnten. Noch aber haben wir diesen Punkt nicht erreicht. Es lohnt also alle Anstrengungen, dieses Um-Kippen bestimmter klimatischer Faktoren zu verhindern, um unsere  Lebensgrundlagen zu erhalten. Dafür bleibt aber nur noch wenig Zeit. Unsere Generation kann und muss einen entschlossenen Wandel auf den Weg bringen.

Petra Pinzler hat in ihrem Buch „Vier fürs Klima“ im Selbstversuch festgestellt, dass es, selbst wenn man sich viel Mühe gibt, nahezu unmöglich ist, den eigenen CO-2-Fußbadruck so weit zu reduzieren, dass er in den Grenzen des Planeten bleibt. Wie gehe ich als Verbraucher mit einer solch deprimierenden Bilanz um, und was heißt das für die Zukunft der Erde?

Bornhorst: Das war ein sehr spannender Versuch und ein schönes Buch.  Auch hier gilt die alte, aber nicht falsche Wahrheit, dass ein richtiges Leben im falschen nicht möglich ist.  Das heißt, wenn die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch die kulturellen Vorstellungen (schneller, höher, weiter etc…) so sind, wie sie sind, stoße ich als Individuum bei allen Versuchen, umzusteuern, immer wieder an meine Grenzen – ich kann nur „richtiger“ leben.

Auf der anderen Seite fallen die notwendigen politischen und wirtschaftlichen Reformen nicht vom Himmel, sondern der politische Meinungsbildungsprozess orientiert sich ja auch an dem, was wir als Bürger und Bürgerinnen vorleben, einfordern und deutlich machen. Von daher gesehen sind solche „Versuche“ nicht umsonst, und jede/r von uns sollte täglich versuchen, seinen ökologischen Fußabdruck so weit wie möglich zu verringern.


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Ralph Allgaier arbeitet als Pressesprecher bei Misereor.

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