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Eine Welt ohne Hunger und Armut schaffen

Das derzeit dominante Wirtschafts- und Agrarmodell ist keine Lösung.

Den Hunger weltweit beenden – so lautet das zweite Ziel für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030. Um es zu erreichen, muss das gesamte Ernährungssystem in den Blick genommen werden – vom Acker bis zum Teller. Es braucht neue Lösungsansätze, eine diversifizierte Landwirtschaft, verbesserte Verarbeitungs- und Vermarktungsmöglichkeiten im globalen Süden. Und eine entschiedene Absage an eine kurzfristige Gewinnorientierung von Agrarkonzernen.

Der Misereor-Partner Agroecologiay Fe in Cochabamba unterstützt Frauengruppen sowohl in der städtischen Landwirtschaft als auch auf dem Lande. © Eduardo Soteras Jalil | MISEREOR

Der Misereor-Partner Agroecologiay Fe in Cochabamba unterstützt Frauengruppen sowohl in der städtischen Landwirtschaft als auch auf dem Lande. © Eduardo Soteras Jalil | MISEREOR

„Misereor – Aktion gegen Hunger und Armut in der Welt”– mit diesem Untertitel begann vor 60 Jahren die Arbeit von Misereor. Der Einsatz gegen Hunger als die brutalste Form der Armut liegt also seit den Anfängen quasi in unserer DNA.

Gemeinsam mit unseren Partnern in Afrika, Asien, Lateinamerika und Ozeanien haben wir in den zurückliegenden sechs Jahrzehnten immer wieder Lösungsansätze aufgezeigt: Neue Wege, die gegangen werden müssen, um den Hunger in der Welt und dessen Ursachen endgültig auszulöschen. Oft verlaufen diese Lösungsansätze auf schmalen, noch wenig begangenen Pfaden. Und wir stellen immer wieder fest: zu Recht. Denn die bisherigen und die derzeit dominanten Wirtschafts- und Agrarmodelle haben die Armuts- und Hungerprobleme keinesfalls gelöst. Das schmerzt, bestärkt uns aber auch auf unserem Weg. Vieles haben wir gemeinsam mit unseren Partnern vor Ort in dieser Zeit gelernt, und vieles bleibt noch zu tun.

Misereor-Plakate im Wandel der Zeiten, hier ausden Jahren 1961

Konkret: Im bitterarmen Haiti haben mehr als 30.000 Bauernfamilien in Kooperation mit Misereor grüne Inseln inmitten des weitgehend abgeholzten Berglands geschaffen. Sie verkaufen Teile ihrer Ernte und verbessern so das Angebot an Nahrungsmitteln. Wer hier Agroforstwirtschaft mit ertragreichen Waldgärten betreiben kann, muss nicht in die Elendsviertel der überfüllten Städte abwandern oder außer Landes gehen. Die Bauern und Bäuerinnen sind oft am stärksten von Hunger und Armut betroffen.

Egal auf welchem Kontinent oder in welchem Land, im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen die Potenziale dieser Menschen. Sie gilt es zu unterstützen und auszubauen. Ökonomisch gesprochen meint das zum Beispiel, den Einsatz und die Abhängigkeit von externen und teuren Betriebsmitteln zu minimieren. Landwirtschaftlich gesprochen bedeutet es, auf agrarökologische Methoden zu setzen, die es den Bäuerinnen und Bauern erlauben, ihre landwirtschaftliche Produktion mit lokal verfügbaren Ressourcen und adäquaten Technologien zu intensivieren, ohne ihr knappes Geld für teure Agrarchemie auszugeben. Die Förderung von Biodiversität mit vielfältigen, robusten, lokalen Pflanzensorten etwa reduziert den Schädlingsbefall. Obendrein lohnt es sich für Bäuerinnen und Bauern, solch einen diversifizierten Anbau zu betreiben, falls es zu Ernteausfällen kommt oder die Preise verfallen.

MISEREOR-Plakate im Wandel der Zeiten, hier aus dem Jahr 1966

Im zentralen Hochland von Afghanistan unterstützt Misereor eine lokale Partnerorganisation bei der Entwicklung und Einführung von einfachen Gewächshäusern, die vor allem aus lokalen Baumaterialien bestehen. Die Nutzung passiver Solarenergie verlängert die in dieser Region nur sehr kurze Vegetationszeit. In den Gewächshäusern werden über den gesamten Winter Kräuter gezogen, die die Ernährung der Bevölkerung um wichtige Nährstoffe ergänzen. Einige Bäuerinnen und Bauern pflanzen auch Blumen an und erzielen damit ein gutes Einkommen, da Blumen vor allem für Hochzeiten sehr begehrt, aber schwierig zu bekommen und teuer sind. Hier gehen Menschen trotz extremer politischer, geografischer und ökonomischer Bedingungen eigenständig einen Weg aus Armut, Not und Hunger.

Verteilungsgerechtigkeit und Zugang zu Ressourcen

alat in Hydrokultur ziehen: ein Pilotprojektdes Misereor-Partners SIKAT auf der Insel Siargao, Philippinen, ermöglicht Fischerfamilien Selbstversorgung. © Hartmut Schwarzbach | MISEREOR

Salat in Hydrokultur ziehen: ein Pilotprojektdes Misereor-Partners SIKAT auf der Insel Siargao, Philippinen, ermöglicht Fischerfamilien Selbstversorgung. © Hartmut Schwarzbach | MISEREOR

Trotz dieser und vieler anderer positiver Erfahrungen haben wir gemeinsam mit unseren Partnern auch gelernt, dass Hunger und Armut alleine durch angepasste Produktionsweise und verbesserte Verarbeitungs- und Vermarktungsmöglichkeiten nicht zu beseitigen sind. Immer noch hungern über 815 Millionen Menschen, davon 80 Prozent auf dem Land. Gleichzeitig sind rund 1,9 Milliarden Menschen weltweit übergewichtig. Tendenz steigend, auch in Afrika und Asien! Rund ein Drittel der weltweit für den menschlichen Bedarf produzierten Lebensmittel landet laut der Welternährungsorganisation FAO auf dem Müll. Jede und jeder von uns wirft nach Schätzungen des deutschen Verbraucherministeriums jährlich durchschnittlich 82 Kilogramm Lebensmittel im Wert von 330 Euro pro Kopf weg.

MISEREOR-Plakate im Wandel der Zeiten, hier aus dem Jahr 1983

 

Es gibt mehr als genug Nahrung auf der Welt, um auch künftig alle Menschen ausreichend zu ernähren. Entscheidend dabei ist, wie wir damit umgehen. Da sind wir bei der Lebensmittelverschwendung und der Tatsache, dass mehr als die Hälfte der globalen Getreideernte als Tierfutter oder Biotreibstoff verwendet wird. Hunger ist also mehrdimensional, vor allem aber ist er ein politisches Problem. Es ist nicht in erster Linie ein Problem von zu geringer Produktion, wie uns die großen Akteure der Agrarindustrie gerne glauben machen wollen, sondern eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit sowie des Zugangs zu Ressourcen und zu lokalen Märkten.

Für Misereor wie auch für Brot für die Welt und unsere Partner bedeutet dies, dass wir an verschiedenen Stellschrauben drehen müssen, wenn es darum geht, das zweite Ziel für nachhaltige Entwicklung der Agenda 2030 zu erreichen. Dieses zweite SDG (sustainable development goal) besagt: „Den Hunger beenden, Nahrungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern“. Um dies zu erreichen, nehmen die beiden kirchlichen Werke der Entwicklungszusammenarbeit das gesamte Ernährungssystem vom Acker bis zum Teller mit seinen verschiedenen Akteuren in den Blick. Der Kampf gegen den Hunger in der Welt und der Einsatz für eine gute und diversifizierte Ernährung für alle Menschen, die so produziert wird, dass unsere Mitwelt erhalten bleibt, sind untrennbar miteinander verbunden. Das wollen wir deutlich machen. Hier setzen wir uns aktiv für Veränderungen ein.

MISEREOR-Plakate im Wandel der Zeiten, hier aus dem Jahr 2011.Es geht auch um uns. Darum, wie wir hier konsumieren und produzieren und darum, welche Politik und welche Wirtschaftssysteme wir unterstützen. Essen ist auch politisch! Die Art und Weise, wie wir uns ernähren, stößt schon seit längerem an ihre Systemgrenzen. Erst recht dann, wenn unser Ernährungssystem als „Modell“ im globalen Süden von einer wachsenden Mittelschicht kopiert wird. Und wenn arme Menschen zunehmend nur noch an vitamin- und nährstoffarme Lebensmittel kommen, weil die Agrar- und Nahrungsmittelindustrie immer weiter vordringt und Märkte dominiert, auf Kosten von Mensch und Natur.

Unser „modernes“ Ernährungssystem, das Bayer, Nestlé und andere globale Akteure uns gerne als die einzige und richtige Lösung verkaufen wollen, ist Teil des Problems. Es ist mit Hunger und Armut, Klimawandel, Energiekrisen, Ressourcenverlusten, Umweltproblemen, Gesundheitsgefahren und anderen Problemen verknüpft, von denen die Verschwendung oder die wiederkehrenden Lebensmittelskandale nur die unappetitlichen Spitzen des Eisbergs sind.

Agrarökologische Methoden sichern die Ernährung

Dieses System lebt davon, dass ein erheblicher Teil der Kosten, die es verursacht, auf die Armen, auf die Ökosysteme der Erde und auf die Lebenschancen künftiger Generationen abgewälzt werden. Es hebelt das Funktionieren von Märkten zugunsten der mächtigsten Player aus. Verstärkt wird dies durch unfaire Handelsabkommen, die keine verbindlichen Standards vorsehen und so einen Wettlauf zu immer schwächerem Schutz der Umwelt und der sozial Schwachen auslösen.

MISEREOR-Plakate im Wandel der Zeiten, hier aus dem Jahr 2015.

Dies bedeutet für uns, weiter mit unseren Partnern an der Verbreitung von ressourcenschonenden agrarökologischen Methoden und der Produktion vielfältiger und nährstoffreicher Lebensmittel zu arbeiten. Eine Misereor-Langzeitstudie in Uganda zeigt, dass Bäuerinnen und Bauern, die mit agrarökologischen Methoden produzieren, entscheidende Fortschritte bei der Sicherung der Ernährung, beim Einkommen und damit auch beim Lebensstandard gemacht haben. Arm gemachte und ausgegrenzte Menschen gilt es dabei zu unterstützen, dass sie die Kontrolle über Land, Wasser und Saatgut wiedergewinnen. Und hier in Europa gilt es die Kooperation mit denen zu suchen, die unser Ernährungssystem umstellen möchten, auf nachhaltige, diversifizierte, gesunde, für alle Menschen verträgliche Modelle. Seien es die Ernährungsräte in den Städten, seien es die bäuerlichen Gemeinschaften, die Verbände des Ökologischen Landbaus oder Aktivisten und Aktivistinnen von Slow Food.

Die gesamte Versorgungskette umzustellen, bedeutet auch, die konstruktive Auseinandersetzung mit denen zu suchen, die glauben, ein „Weiter wie bisher“ sei die Lösung des Problems. Wir müssen den Menschen in Deutschland und im globalen Süden zeigen, dass es dabei oft um kurzfristige Gewinnmaximierungsinteressen geht und nicht um die langfristige Zukunft unseres Planeten und das Ringen um die Würde eines jeden Menschen. Sich dieser Auseinandersetzung zu stellen, ist nicht immer einfach, aber ein ebenso unverzichtbarer Teil im Kampf gegen den Hunger in der Welt wie die Kooperation mit unseren Partnern vor Ort. Diese Hoffnung ist dabei unsere Partnerin.


Gemeinsam Zukunft gestalten – Nachhaltige Entwicklung für eine Welt im Umbruch

Dossier von Brot für die Welt und MISEREOR anlässlich ihres 60-jährigen Bestehens – in Zusammenarbeit mit der Redaktion welt-sichten. Das Dossier soll einen Beitrag zu einer selbstkritischen Zwischenbilanz nach sechs Jahrzehnten kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit leisten. Dossier lesen >

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Pirmin Spiegel ist Hauptgeschäftsführer bei Misereor. Bevor er 2012 zu Misereor kam, war er 15 Jahre in Brasilien als Pfarrer tätig und bildete in verschiedenen Ländern Lateinamerikas Laienmissionare aus.

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