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Das unerhörte SOS: Von der Gebrechlichkeit der Menschenrechte

Es ist ein Tag für Stolz und Schande, es ist der „Tag der Menschenrechte“: Das Europäische Parlament verleiht den Sacharow-Preis, die Organisation Reporter ohne Grenzen verleiht ihren Menschenrechtspreis, das norwegische Nobelkomitee überreicht den Friedensnobelpreis. Es ist ein Tag zum Innehalten, es ist ein Tag zum Feiern und es ist ein Tag zum Weinen. Es ist der Jahrestag: Vor 70 Jahren, am 10. Dezember 1948, verkündete die Generalversammlung der Vereinten Nationen in Paris die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Wir feiern diese Erklärung, wir feiern die Jubilarin, weil sie etwas geleistet hat, weil sie Ansehen genießt, weil man mit Respekt von ihr redet.
Die Papierform der Menschenrechte ist vorzüglich. Diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte ist der Stammbaum für ein ganzes System von Konventionen, die verbindliche Rechte und Pflichten formulieren. Die Menschenrechte stehen in fast allen Verfassungen, sie finden sich in fast jeder staatsmännischen Rede, sie gehören zum Völkergewohnheitsrecht. Die Pakte und Konventionen kann man aufeinandertürmen zu einer Weihnachtspyramide. Das ist Anlass zum Stolz.

Die Realität ist eine Schande. Jeder Jahresbericht vom Amnesty International liest sich wie eine Todesanzeige für die Menschenrechte: Vergewaltigung, Mord, Rechtlosigkeit und erschlagene Freiheit auf Hunderten von Seiten. Und in fast allen Nachrichten hört und liest man das SOS. Aber es ist so, als seien die Ohren taub geworden für die Hilferufe aus Syrien oder Jemen oder Afghanistan.

Um die Menschenrechte steht es so schlecht wie lange nicht – und mit der Vorbildrolle der USA ist es schon lange vorbei. Die Menschenrechte sind Opfer geworden, erst im „Kampf gegen den Terror“; dann wurden sie Opfer der Tiraden von Donald Trump. Die Menschenrechte sind oft nicht einmal mehr Sand im Getriebe der Mächtigen. Die Sprache der Politik ist gemein geworden und bösartig: Die Flüchtlinge gelten als Teil einer bedrohlichen Masse; von „Menschenfleisch“ hat der italienische Innenminister Matteo Salvini von der rechtsextremen Partei Lega Nord verächtlich gesprochen. Das ist die Sprache des Unmenschen; die Unmenschlichkeit beginnt mit solcher Sprache. Diese Unmenschlichkeit greift
um sich.

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ So heißt es im Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Schon lange hat man diese Worte nicht mehr so zaghaft und so sehnsüchtig gelesen. Der Geist der Brüderlichkeit – hat Donald Trump ihn eingesperrt und eingemauert? Der Glaube an den Fortschritt der Aufklärung ist erschüttert; er hat tiefe Risse. Das Jubiläumsgefühl 2018 ist daher nicht wohlig, sondern bang; man sitzt in der Zeit der Herbststürme nicht gemütlich am Kamin; es gibt auch in Deutschland, angesichts eines flagranten Rassismus, das Gefühl, dass einem fröstelt. Das vermeintlich Sichere ist nicht mehr sicher.

Wie groß ist die Kraft der Hoffnung? Diese Kraft hat vor 70 Jahren die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte geschrieben; sie hat, zur gleichen Zeit, das deutsche Grundgesetz geschrieben. Von der Hoffnung von damals kann man heute wieder einiges brauchen.

Rechtsstaatlichkeit, Grundrechtsbewusstsein, die Achtung von Minderheiten und der Respekt für Andersdenkende sind nicht vom Himmel gefallen und dann für immer da. Das alles muss man lernen, immer und immer wieder. Dafür muss man streiten, immer und immer wieder. Man muss die Erklärung der Menschenrechte als Mahnung und als Auftrag lesen. Schon lang war diese Mahnung nicht mehr so laut wie am Ende des Jahres 2018.

Über den Autor: Prof. Dr. Heribert Prantl ist Jurist, Journalist und Autor. Er leitet seit Januar 2018 das Meinungsressort der Süddeutschen Zeitung in München und ist seit Januar 2011 Mitglied der Chefredaktion.

Illustration von Kat Menschik


Dieser Artikel erschien zuerst im Misereor-Magazin „frings.“ Das ganze Magazin können Sie hier kostenfrei bestellen >

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

  1. Avatar-Foto

    Es ist wie immer ein Genuss, den Gedanken von Heribert Prantl zu folgen. Natürlich, den Inhalt kann man schwer genießen, gleichwohl aber die Art des Anstosses und s Fragens. Ja, wir müssen uns wohl endgültig von einer Haltung des steten Fortschritts verabschieden und wieder das Kämpfen lernen, fuer die Armen und Entrechteten und gegen den Wahn der Rendite. Wir sind schon viele und wir können viel bewegen, wenn wir die richtigen Strategien entwickeln. Das aber ist leider eine Menge Knochenarbeit!

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