Copacabana, Zuckerhut, Karneval – typisch Rio de Janeiro. Leider auch typisch: Die Favelas in Brasiliens Millionenmetropole. Hier bestimmen Gewalt, Drogen und Armut den Alltag. Wie ein Zirkusprojekt der MISEREOR-Partnerorganisation „Se Essa Rua Fosse Minha“ jungen Menschen aus den Favelas neue Hoffnung schenkt.
„Mein Name ist Cafeeh und ich bin schwarz.“ Cafeeh, der mit bürgerlichem Namen Wanderson heißt, ist Zirkustrainer im MISEREOR-Projekt „Se Essa Rua Fosse Minha“ (SERUA). Heute ist der 24-jährige stolz auf seine Identität. Das war nicht immer so. Sein Künstlername ist Ausdruck einer Lebenseinstellung, für die er hart gekämpft hat.
Wanderson lebt in einer Favela der Stadt São João de Meriti. Nach der Trennung seiner Eltern wollte sich niemand mehr um ihn kümmern, also ist er von Zuhause abgehauen. Da war er gerade einmal 6 Jahre alt. Die Geschichte ist kein Einzelfall in den Elendsvierteln der Millionenmetropole. Aber Wanderson hatte Glück: Seine Großmutter Neuza nahm ihn auf. Die 79-Jährige ist inzwischen Witwe und hatte selbst nie Unterstützung. Trotzdem hat sie neben ihren eigenen Kindern großgezogen und dafür gesorgt, das immer etwas zu Essen auf dem Tisch steht.
Rio: Die Stadt mit zwei Gesichtern
Die tiefe Spaltung zwischen arm und reich wird nirgendwo deutlicher als in den Favelas. Die 6.6-Millionen-Einwohner Stadt scheint keinen Platz für die Menschen aus den Armenvierteln zu haben. Die Häuser der Favela-Bewohner wachsen am Rand der Stadt die Berge hoch, ihr Leben findet abseits statt.
Vieles hier ist improvisiert: Es gibt beengte Häuser aus Pappe, Wellblech oder Stein, die häufig dem Regen nicht standhalten. Es gibt illegale Müllhalden, kleine Cafés und Friseurläden in Hinterhöfen. Wasser und Strom gibt es dafür oft nur, wenn die Bewohner die öffentlichen Leitungen anzapfen. Es mangelt an Polizeistationen und Krankenhäusern zur Versorgung der knapp 470.000 Einwohner in São João de Meriti.
Wenn die Herkunft entscheidet wo es hin geht
Aus der Favela zu sein bedeutet fremd im eigenen Land zu sein. Junge AfrobrasilianerInnen werden von der Polizei grundlos kontrolliert, wenn sie durch Geschäfte oder Straßen laufen. Eine ordentliche Schule oder Universitäten werden die meisten nicht besuchen – ebenso wenig wie die Wahrzeichen ihrer Stadt, den Zuckerhut oder die Christusstatue.
Viele verstecken ihre Favela-Herkunft und nutzen eine Scheinadresse, damit sie bei Vorstellungsgesprächen überhaupt eine Chance bekommen. „Mein größter Wunsch für die Zukunft ist, das gleiche Rechte für alle herrschen. Wenn ich als schwarzer Künstler aus der Baixada [Ansammlung armer Vorstädte in Rio de Janeiro, Anm. d. Red.] arbeiten möchte, brauche ich drei Jobs, um zu überleben,“ erzählt Wanderson.
Gewalt, Drogen, Armut – das harte Leben in den Favelas
Weil Bildungs- und Freizeitangebote in den Favelas fehlen, rutschen Kinder oft schon in jungen Jahren in den Kreislauf aus Gewalt und Kriminalität. In der Not schließen sie sich Banden an oder werden zur Prostitution gezwungen. Drogenbanden und Polizei liefern sich blutige Kämpfe in den Straßen der Elendsviertel. Die Mordrate in Rio de Janeiro ist extrem hoch und selbst vor Auftragsmorden an Kindern wird hier kein Halt gemacht. „Wenn jemand mit einer Waffe an dir vorbeigeht oder vor deiner Tür steht, dann habe ich Angst,“ erzählt die 14-jährige Adriana.
Wie sollen junge Menschen ihren Blick in die Zukunft werfen, wenn sie nicht mal wissen, ob sie den nächsten Tag überleben?
Ein kleines Wunder mitten in der Favela
Die MISEREOR-Partnerorganisation „Se Essa Rua Fosse Minha“ (SERUA) setzt genau hier an. Mit Freizeit- und Bildungsangeboten schenkt das Projekt benachteiligten Kindern und Jugendlichen Hoffnung und Zukunft. Das Herzstück des Projektes ist ein Zirkuszelt mitten in der Favela.
Hunderte Kinder und Jugendliche kommen hier her und trainieren wie die Profis – darunter auch Adriana und Wanderson. Bei Akrobatik, Theater und Tanz lernen sie ihre Talente kennen und sich gegenseitig zu vertrauen.
Der Zirkuszauber lässt den harten Alltag für einen Moment vergessen und zeigt den jungen Menschen, dass es Alternativen zum Leben auf der Straße gibt. In der Manege ist Platz für alle, hier wird niemand wegen seiner Herkunft oder Hautfarbe ausgeschlossen. Wanderson strahlt, der Zirkus ist für ihn wie ein Zuhause: „Das Zusammensein im Zirkus ist das Schönste für mich. Es ist einfach magisch.“ Inzwischen arbeitet er selbst als Trainer bei SERUA.
Das Zirkuszelt steht auch für die Zukunft
Bei SERUA lernen die Jugendlichen auch berufliche Perspektiven kennen und können sich politisch bilden. Theaterstücke und Gesprächsrunden helfen bei der Aufarbeitung von Themen wie Homosexualität, Diskriminierung und Gewalt. Bei öffentlichen Zirkusaufführungen machen sie auf die Situation in den Favelas aufmerksam und lernen, sich als Bürger der Stadt für ihre Rechte stark zu machen.
Wenn Träume fliegen lernen
Wandersons größter Wunsch ist es, als Künstler sein Geld zu verdienen. Der Weg dahin ist noch lang, doch der junge Mann gibt die Hoffnung nicht auf. Wenn er in der Manege an bunten Bändern meterhoch durch die Luft schwebt, scheinen auch seine Träume wieder fliegen zu lernen: „Meine Botschaft an euch ist: Gebt niemals auf! Macht weiter und träumt große Träume.“
Über die Autorin: Pia Schröder arbeitet in der Online-Redaktion bei MISEREOR.