Claudette Azar hilft bei unserem Projektpartner JRS in Syrien Kindern und Jugendlichen, die unter den Folgen des Krieges leiden. Im März kam sie nach Deutschland, um im Rahmen der MISEREOR-Fastenaktion „Gib Frieden“ über die Situation in ihrem Heimatland zu berichten. Dann kam Corona. Claudette Azar kehrte nach Hause zurück und musste feststellen, dass zu der ohnehin schwierigen Situation, eine neue Gefahr hinzugekommen war. Doch davon lässt sie sich den Mut nicht nehmen.
„Auf dem Heimweg nach Syrien bekam ich Angst, Unruhe ergriff mich. Ich hatte Anfang März an Veranstaltungen der Misereor-Fastenaktion teilgenommen und gespürt, wie die Besorgnis der Menschen in Deutschland allmählich Zeichen von Panik zeigte, angesichts der schrecklichen Bilder aus Italien und schnell steigender Infektionszahlen im eigenen Land. Doch dass ich bei meiner Rückkehr eine vergleichbare Situation in meinem eigenen Land erleben würde, überraschte mich. Die Maßnahmen zur Abwehr der Pandemie waren sogar noch strikter: 14 Tage Quarantäne erwarteten mich – eine Zeit, der verschiedensten Emotionen. Das soziale Leben existierte nicht mehr, das Arbeitsleben war weitgehend eingestellt, jeder hatte Angst vor dem Tod. Die Menschen in meiner Heimat betrachteten das Corona-Virus als das Virus des Todes.
Die Furcht vor Hunger ist größer als die Angst vor Corona
Wie unter einem Brennglas entzündeten sich besonders am Anfang erneut all der Schmerz und das Leid der Vertreibung – all die harten Erfahrungen, die wir als Syrerinnen und Syrer in den vergangenen neun Jahren durchgemacht haben und noch immer machen. Wie oft habe ich mich hilflos gefühlt, weil ich den vielen, vielen Menschen in Not nicht finanziell helfen konnte. Seit Jahren lebe ich in einem Zustand des Wartens, dass sich die Bedingungen endlich ändern. Dabei habe ich meinen Glauben nicht verloren, weil Gott auch während des Krieges bei uns ist und uns auch in dieser Krise niemals verlassen wird.
Die Zeit der Quarantäne und die Angst, dass einer von ihnen krank werden könnte, haben die Familien näher zueinander gebracht. Sie verbringen die meiste Zeit gemeinsam. Doch die Angst können sie nicht verdrängen: Angst vor dem Virus, Angst, dass sich die Situation weiter verschlechtert, Angst, kein Geld mehr zu haben, keine Arbeit, kein Essen, keine finanzielle Unterstützung durch Organisationen oder die Regierung. Ohne Einkommensmöglichkeit fürchten viele, an Hunger zu sterben – diese Furcht sei größer als die vor Corona. Eine Frau erzählte, dass ihr neun Jahre alter Sohn trotz der Gefahr, dass er sich mit dem Virus infiziert, weiter in einem Lebensmittelgeschäft arbeitet: ‚Er ist der einzige, der Geld verdienen kann für unseren Lebensunterhalt, sonst sterben wir alle an Hunger, möge Gott ihn beschützen.
Jede Krise führt uns in die Zukunft
Unter diesen schwierigen Umständen versuchen die syrischen Frauen, ihre Familie auf jegliche Art zu unterstützen und ihnen Kraft zu geben – trotz der Angst, die sie in sich tragen. Viele Mütter berichten, dass sie versuchen, Arbeit in fremden Häusern zu finden – zum Beispiel dort zu putzen oder ältere Menschen zu pflegen. Sie wollen zumindest ein wenig Geld verdienen, um ihre Kinder zu ernähren. Zu Hause versuchen sie auf einfache und günstige Weise, die erforderlichen Hygienemaßnahmen umzusetzen – zu sterilisieren, indem sie Salzwasser zur Reinigung ihres Hauses verwenden oder ihre Kinder dazu bringen, Wasserdampf einzuatmen.
Jede Krise, die wir erleben, ist eine Lebensgeschichte, die uns in die Zukunft führen wird. Bald werden wir über diese Krankheit triumphieren und dieser Sturm wird enden. Die Menschheit wird überleben und Kraft finden, um sich zu erholen. Ich gehe davon aus, dass wir in einer anderen Welt leben werden als vor Beginn der Epidemie. Die Werte werden sich ändern, unser Leben und unsere Gewohnheiten werden sich ändern und sogar unser Denken. Vor allem werden wir den Wert dessen erkennen, was wir haben. Und Gott für diese Segnungen danken.
„Meine Kommunikation und Arbeit von zu Hause aus, mit dem Team, gab mir ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens, dass alles gut wird. Die Rolle der Gruppe ist sehr wichtig in meinem Leben, sie unterstützt mich und stärkt meinen Glauben, dass wir diese Krise gemeinsam überwinden können. Kraft schöpfe ich auch aus dem Rückhalt durch meine Familie, die ich nach Rückkehr gesund und sicher vorfand und die mir half, meine Arbeit fortzusetzen.“
Claudette Azar
Claudette Azar arbeitet als Assistentin des Projektleiters des
Jesuit Refugee Services in Kafroun.
MISEREOR-Partner in Syrien
Die Zentren des Jesuit Refugee Services (JRS) in Jaramana und Kafroun unterstützen kriegsbelastete Kinder und Jugendliche aus besonders vulnerablen Haushalten, deren Schulbildung gefährdet ist. Auch ihre Angehörigen erhalten Hilfe durch Bildungs- und soziale Angebote. Psychosoziale Unterstützung ist integraler Bestandteil der Arbeit von JRS und ein Schlüssel für die Rehabilitierung der syrischen Gesellschaft.
Nach dem Corona-bedingten Lockdown organisierte sich das JRS-Team zügig vom Home Office aus. Am Anfang stand die telefonische Kontaktaufnahme mit den Menschen, um ihre Bedingungen einschätzen zu können und zu erfragen, wovon sie leben. Viele von ihnen sagten, dass sie niemanden haben, der sich um sie kümmert oder sie beruhigt. Sie teilten ihr Leiden, sogar ihre Angst und Furcht mit, manche weinten. In einem zweiten Schritt wurde eine unterhaltsame und lehrreiche Facebook-Seite erstellt, die für Kinder und deren Eltern ein gesundheitliches und psychologisches Bewusstsein schaffen möchte. Dies half, Familien zu erreichen und den Zusammenhalt zu stärken.
Seit kurzem wird unter der Aufsicht des syrischen JRS-Landesdirektors an der Erstellung von Handbüchern (Bildung + psychosoziale Unterstützung) gearbeitet, um Kindern bei ihrer Rückkehr zu helfen, Bildungsverluste aufzuarbeiten, die sie während der Zeit der Corona-Krise erlitten haben.