„Wie geht es Ihnen?“ Michel Constantin antwortet auf die im Libanon eher rhetorisch verstandene Frage mit einer pessimistischen Schilderung der Lage in seinem Land: „Die aktuelle Situation im Libanon ist sogar schlimmer als in den Zeiten des Bürgerkrieges“, so der Leiter von Pontifical Mission, einer Partnerorganisation von MISEREOR. „Denn damals waren nicht alle Menschen gleichermaßen betroffen.“ Das ist heute anders. Jeder und jede hat zu leiden unter der Wirtschafts- und Finanzkrise, den Auswirkungen von Corona und nun auch unter den Folgen der verheerenden Explosionen im Hafen von Beirut am 4. August. Noch nie habe er so schlechte Zeiten im Libanon erlebt wie jetzt, beschreibt Constantin die Lage.
Nothilfe und Wiederaufbau
Die Menschen in Beirut hoffen, dass nun der Wendepunkt erreicht ist. Jetzt gehe es erst einmal darum, die am schwersten Betroffenen mit dem Nötigsten zu versorgen. Als Teil ihrer Emergency Response verteilt die Pontifical Mission (PM) nun Lebensmittelpakete an 5.500 Familien (Pakete à 50 €). Die Hälfte geht an Familien, mit denen PM bereits über eigene Programme verbunden ist. Die andere Hälfte wird über die Caritas vor Ort verteilt, auch um den Ansatz „wir helfen uns untereinander“ zu stärken. PM lässt zudem Begutachtungen durchführen, um die Schäden an Gebäuden einschätzen zu können. Nach ersten Prüfungen wird die Reparatur eines Hauses mit 1.000 bis 1.200 US-Dollar veranschlagt. PM möchte zunächst 40 bis 50 Häuser reparieren oder wieder aufbauen lassen. Danach sollen Krankenhäuser und Schulen repariert und instand gehalten werden. Das ist dringend notwendig, denn viele Schulen in der unmittelbaren Umgebung wurden beschädigt, allein 50 mit christlichem Träger.
Das Fratelli-Bildungsprojekt: Hoffnungsschimmer inmitten der Krise
Das helle und einladend wirkende Schulgebäude der der Saint-Vincent-de-Paul-Schule hat auch etwas abbekommen. Die Explosionen haben es beschädigt. Größtenteils wurden – jedenfalls dem ersten Augenschein nach – vorwiegend Fenster und -fassaden sowie Deckenplatten zerstört. Glücklicherweise, denn so kann hier der Schulbetrieb im Beiruter Stadtteil Bourj Hammoud recht schnell wieder aufgenommen werden. Derzeit sind die Schulen aufgrund der Corona-Pandemie und den Ferien noch geschlossen. In dem Schulgebäude befindet sich auch das Fratelli-Bildungsprojekt, das für seinen Unterricht der etwa 100 Schülerinnen und Schüler eine Etage nutzt. Hier erfahren Kinder von Geflüchteten aus dem Irak und Syrien besondere Unterstützung und Hilfe, ihr Leben in der neuen Heimat Libanon zu gestalten.
Lebensmittel und psychosoziale Hilfe
In der jetzigen Krisensituation wachsen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über sich hinaus: Fratelli leistet Nothilfe für die Familien ihrer Schülerinnen und Schüler, besucht diese zu Hause, verteilt zusätzlich Lebensmittel und bietet psychosoziale Unterstützung an. Einige Familien haben ihren gesamten Haushalt verloren. Auch hier unterstützt Fratelli die betroffenen Familien, indem Teile der Wohnungseinrichtungen oder Haushaltsgeräte ersetzt werden. Außerdem beteiligt sich Fratelli finanziell an der Renovierung zerstörter Häuser.
Die übrigen Etagen des Schulgebäudes in Bouri Hammoud werden für den regulären Besuch von 530 Schülerinnen und Schülern genutzt. Der Besuch muss von den Eltern bezahlt werden, wenngleich das Schuldgeld gering ist. Schuldirektor Richard Nader erklärt, die Regierung müsse eigentlich 50 % der Kosten für die Schule übernehmen, aber seit 5 Jahren erhielten sie keine Zuschüsse mehr. Nader engagiert sich seit Jahrzehnten mit viel Enthusiasmus, um die Schule auch ohne staatliche Hilfe am Laufen zu halten. Seit der Explosion im Hafen von Beirut ist er dabei, weitere finanzielle Unterstützung einzuwerben, damit die Schule wie auch betroffene Familien Unterstützung erhalten. Denn er sieht keine Alternative zur Selbsthilfe und gibt sich entschlossen: „Was sollen wir tun? In diesem Land gibt es keine Regierung!“
Über die Autorin: Karin Uckrow leitet die Dialog- und Verbindungsstelle Libanon/Naher Osten von MISEREOR.