Die MISEREOR-Partnerorganisation CEASM setzt sich in Rio de Janeiro für das Empowerment junger Menschen in der Favela ein. Seit 23 Jahren besteht das Centro de Estudos e Ações Solidárias da Maré – Zentrum für Studien und solidarische Aktionen in Marè. Durch den Zugang zu Bildung und die Pflege einer Erinnerungskultur werden junge Leute darin unterstützt, am gesellschaftlichen Diskurs teilzunehmen – und schließlich ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Rio de Janeiro ist für seinen Karneval und die Sambamusik weltbekannt. An der Bucht von Guanabara liegt die Cidade Maravilhosa, die „großartige Stadt“, malerisch zwischen Traumständen und tropisch bewachsenen Hügeln. Gleichzeitig finden sich in der Megastadt Realitäten, die unterschiedlicher nicht sein können. Während in dem Stadtviertel Copacabana am gleichnamigen Strand die Reichsten der Reichen Brasiliens ihren Wohnsitz haben, gibt es auf der anderen Seite auch zahlreiche Armenviertel, deren oftmals bunte und dicht beieinanderstehende Häuschen man an den zahlreichen Hängen Rios sieht.
Die Favelas: Materielle Armut, kultureller Reichtum
Hier wohnen Menschen, deren Familien aus allen Teilen Brasiliens stammen und die einen Großteil der arbeitenden Bevölkerung Rios ausmachen. Es sind die Alltagsheld*innen, die die Stadt am Laufen halten. Eines der Armenviertel ist die Favela Maré. Sie liegt in der sich weit erstreckenden Nordzone Rios und ist genaugenommen ein Komplex aus insgesamt 16 Favelas mit etwa 140.000 Einwohner*innen. Damit bildet Maré eine kleine „Stadt in der Stadt“. Hier pulsiert das Leben, das zumeist auf der Straße stattfindet. Es geht expressiv, laut und gesellig zu – ein unbeschreiblicher Reichtum an Kultur, Kunst und Solidarität.
Diesem Reichtum stehen materielle Armut und der Ausschluss von Ressourcen gegenüber. Etwa im brasilianischen Bildungssystem: Die Qualität der öffentlichen, gebührenfreien Schulen ist oft unzureichend. Hier sind die Klassen mit über 40 Schülerinnen und Schülern viel zu groß. Die Mittel öffentlicher Schulen sind im Vergleich zu den privaten, etwa in der Südzone der Stadt, sehr begrenzt. In Maré brechen viele junge Leute die Schule ohne mittlere Reife ab. Manche müssen arbeiten, um die Familie finanziell zu unterstützen. Andere sind frustriert, der Schulbesuch wird nicht als Bereicherung erfahren – und der Lernerfolg fällt gering aus.
Bandenkriege und verirrte Kugeln
Ein weiterer Faktor ist, dass es in Maré drei kriminelle Banden gibt, die als Ordnungshüter auftreten. Die Polizei hingegen wird von den Bewohnern oftmals als Aggressor wahrgenommen. Sie kreuzt in Maré ausschließlich in Sicherheitsfahrzeugen auf, die eher an Panzer erinnern als an Autos. Bei den häufigen Schusswechseln zwischen hochgerüsteten Polizeieinheiten und schwerbewaffneten Gangs werden immer wieder auch Unbeteiligte getroffen. In den Auseinandersetzungen stehen die Bewohner*innen der Favelas stets unter Generalverdacht. Sie würden mit den Banden gemeinsame Sache machen und sie schützen. Die größte Angst der Kinder und Jugendlichen sind die „Tiros“ – verirrte Kugeln aus den Waffen der sich bekriegenden Gruppen. Dieses „Päckchen“, die ständige Gefahr im Alltag der Favelas, tragen sie immer mit sich herum.
Im ständigen Kampf für eine Gesellschaft ohne Rassismus
Eine weitere Herausforderung im Land ist der Rassismus, der tief in der Gesellschaft verankert ist und sie bis heute spaltet. Bewohner*innen der Favelas beschreiben es so: „Je dunkler deine Hautfarbe, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass du von der Polizei gestoppt und zum Opfer von Alltagsrassismus wirst.“ Dieser Rassismus setzt sich fort im vorherrschenden und von den Medien verbreiteten „weißen“ Schönheitsideal. Das schließt die afrobrasilianische Bevölkerung kategorisch aus – und damit erst recht diejenigen, die wie hier in Maré unter prekären Bedingungen leben.
Doch die Favela ist auch ein Ort des Kampfes und des Widerstands. Immer wieder stehen die Bewohner*innen für ihre Grundrechte ein und setzen sich gegen die Vorurteile zur Wehr, die ihnen von außen aufgedrückt werden. Exemplarisch für viele Meldungen wurde Maré vom größten brasilianischen Fernsehsender Globo als „Bunker für Banditen“ beschrieben. Mittlerweile wurde der Beitragstitel zwar abgeändert. Die Schlagzeile offenbart jedoch das rassistische Denken, das weite Teile der brasilianischen Mittel- und Oberschicht durchdrungen hat.
CEASM: Wie aus Träumen Taten werden
Genau dieses Denken möchte die MISEREOR-Partnerorganisation CEASM (Centro de Estudos e Ações Solidárias da Maré) durchbrechen. Fakt ist tatsächlich: Maré ist ein „Bunker der Kompetenz“. Angefangen hat das „Zentrum für Studien und solidarische Aktionen in Maré“ als eine Gruppe junger Leute, die sich in der Kirchengemeinde dem Ideal verschrieben, den Jugendlichen von Maré gleiche Bildungschancen und damit den Zugang zur Universität zu ermöglichen. Gleichzeitig teilten sie die Leidenschaft für die Geschichte „ihrer“ Maré, die sie bereits filmisch unter dem Titel TVMaré auf Festivals porträtierten. Nun begannen sie auch, ihre „Stadt in der Stadt“ systematisch wissenschaftlich zu untersuchen. Aus dieser Grundidee ist eine einzigartige Erfolgsgeschichte geworden, die brasilienweit hohes Ansehen genießt. Es gibt kaum eine Favela, deren Geschichte so gut erforscht und aufbereitet ist. Zahlreiche Uni-Abschlussarbeiten wurden bereits über Maré verfasst. Und so erkämpfen sich die Menschen aus Maré auch einen Platz im wissenschaftlichen und schließlich im gesellschaftlichen Diskurs.
Unsere Geschichte zählt! Ein Museum für Maré
Aus dieser Erfolgsgeschichte heraus entstand schließlich das erste Museum überhaupt, das in einer Favela die Geschichte ihrer Menschen erzählt. Die Ausstellung im Museu da Maré erzählt in 12 „Gezeiten“ die Lebensgeschichte ihrer Bewohner*innen. Und das Museumsarchiv ist für viele der wissenschaftlichen Arbeiten zu Maré eine entscheidende Quelle und ein Ort der Inspiration geworden.
Nach mittlerweile 23 Jahren hat CEASM eine ganze Palette an Projekten, die tausende Jugendliche bereits durchlaufen haben. Den langfristigen Erfolg für die Community zeigt die Bindung vieler Teilnehmender mit CEASM. Mittlerweile arbeiten viele selbst als Multiplikatorinnen und Multiplikatoren. Zu diesen gehören auch Matheus Frazão und Luiz Augusto Ferreira Lourenço.
Empowerment Jugendlicher kommt Maré zugute
Luiz Augusto Ferreira Lourenço (34 Jahre) ist bei CEASM in Maré Koordinator für die Uni-Vorbereitungskurse, die sogenannten Cursos Pré-vestibular Maré. Als Jugendlicher machte Luiz bei verschiedensten Kursen von CEASM mit. Einige Jahre später schrieb er sich auf Rat seiner Schwester beim Uni-Vorbereitungskurs ein. Während er abends gemeinsam mit den anderen lernte, arbeitete er morgens im Sekretariat von CEASM. Er schaffte den Sprung in die Universität direkt im ersten Jahr und begann, Geographie auf Lehramt zu studieren. Im Studium setzte er sich mit Konzepten des Pädagogen Paulo Freire auseinander. Er lernte Ansätze dekolonialer Bildung kennen und wie Bildung in Favelas organisiert werden kann. Außerdem befasste Luiz sich mit der Kartographie von Favelas im Allgemeinen und von Maré im Besonderen. In seiner Abschlussarbeit entwickelte er daraus eine Unterrichtsreihe zum Kartographieren für Jugendliche in Maré .
So konstruieren die Jugendlichen anhand fünf persönlicher Aspekte eine thematische Karte der Favela. Dies hilft ihnen, und reflektieren dabei gemeinsam über ihr Leben in Maré. Die Lerngelegenheit endet mit einer Führung durch das Museu de Maré. Während des Studiums arbeitete Luiz bei CEASM als Lehrer für die Uni-Vorbereitungskurse. Außerdem bereitete er im Jahr etwa 150 Schülerinnen und Schülern auf das brasilianische Abitur, Ensino Medio, vor. Mittlerweile ist Luiz Koordinator dieser Vorbereitungskurse.
Matheus Frazão (24 Jahre) stammt aus der Favela Vila do Pinheiro in Maré. Im Bildungsteam des Museu da Maré arbeitet er als Geschichtenerzähler, Contador de Histórias. Matheus nahm in seiner Jugend an dem Theaterprojekt Entre Lugares im Museum teil, einer von aktuell drei kulturellen Workshops. Durch diesen ersten Kontakt gewann er Interesse an dem Projekt für Jugendtalente. In seiner Abschlussarbeit setzte er sich daraufhin mit dem Konzept „Theater der Unterdrückten“ auseinander. Über die Vorbereitungskurse im Projekt schaffte er schließlich als erster seiner Familie den Sprung auf die Universität. Nun studiert er Theaterpädagogik. Er war Teil des Projektes Öko-Netzwerk und arbeitet als Geschichtenerzähler über Maré. Theaterpädagogische Methoden helfen ihm dabei, mit seinen Erzählungen Kinder und Jugendliche zu begeistern.
Autor: Ole Joerss arbeitet nach seiner Zeit als Bildungsreferent bei MISEREOR aktuell ehrenamtlich im Museu da Maré von CEASM in den Bereichen Bildung und Kommunikation.
Weitere Informationen:
- zum Museu da Maré im Netz bei YouTube.
- das Museum bietet auch englischsprachige Führungen an.