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Versprengte Hoffnungen: Der Libanon in der Dauerkrise

Nicht erst seit der verheerenden Explosion in einem Lagerhaus im Hafen von Beirut befindet sich der Libanon in einer akuten ökonomischen und gesellschaftlichen Notsituation. Infolge einer beispiellosen Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich das Bruttosozialprodukt von 55 Milliarden US-Dollar in 2018 auf etwa 21 Milliarden US-Dollar in diesem Jahr mehr als halbiert. Die Folge sind eine rasch wachsende Arbeitslosigkeit und zunehmende Armut, gerade auch unter den vielen syrischen Geflüchteten.

© Mellenthin | Misereor

Nach dem Zusammenbruch des Finanzsystems schlossen Banken. Die Menschen kommen kaum mehr an ihre Guthaben. Es fehlt an Geld für die Schulausbildung der Kinder, die Finanzierung von Weiterbildungsmaßnahmen und Universitätsbesuchen ebenso wie für alle Dinge des täglichen Bedarfs.

Wir sprachen mit Michel Constantin, dem Regionaldirektor der Misereor-Partnerorganisation Pontifical Mission der Catholic Near East Welfare Association (CNEWA/PM) in Beirut, über die Situation vor Ort und Perspektiven für den Libanon.

Herr Constantin, welche Auswirkungen hat die aktuelle Schuldenkrise für die Menschen im Libanon?

Verteilung von Lebensmittelpaketen in Beirut
Die Partnerorganisation Fratelli verteilte nach dem Anschlag Lebensmittelpakete an bedürftige Familien. © Fratelli

Michel Constantin: Die Explosion in Beirut hat die durch die Corona-Pandemie und die Überschuldung des Landes ohnehin schon katastrophale Lage weiter verschlimmert und Hoffnungen auf Besserung zunichte gemacht. Bis vor wenigen Monaten kannte man noch keinen Hunger im Libanon. Nun ist die sichere Versorgung vieler Menschen mit Lebensmitteln ebenso in Gefahr wie die Aufrechterhaltung des Gesundheitswesens. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist aktuell abhängig von Hilfslieferungen. Wir brauchen dringend Lebensmittel, Arzneimittel und medizinische Ausrüstung, aber auch Unterstützung für kleine und Kleinstunternehmen. Die Regierung bezuschusste Grundnahrungsmittel, Benzin und Medikamente mit etwa 700 Millionen US-Dollar pro Monat, aber mehr als 90 Prozent der Finanzreserven sind aufgebraucht. Dadurch fallen immer mehr Menschen in Armut.

Was kann die Pontifical Mission in dieser Situation tun?

Constantin: Zusammen mit unseren Partnern leisten wir dringend benötigte humanitäre Hilfe. Wir haben Nahrungsmittelpakete an mehr als 7.500 notleidende Familien verteilt. Und es gibt auch viele private Initiativen, die versuchen zu helfen. Die Solidarität unter den Menschen ist beachtlich. Wir unterstützen den Wiederaufbau der in der Katastrophe zerstörten Krankenhäuser „Rosary Sisters“ und „Geitawi“. Diese sichern die medizinische Versorgung von mehr als 100.000 Menschen in Beirut, und geben 1.150 Menschen Arbeit. Zudem leisten wir psychosoziale Unterstützung für Kinder, Jugendliche und deren Familien, die durch die Krise traumatisiert sind. Außerdem unterstützen wir den Wiederaufbau von zerstörten Häuser und Wohnungen. So konnten wir schon 1.100 Menschen helfen.

© Mellenthin | Misereor

Wie sehen Sie die Zukunft des Libanons?

Constantin: Seit Jahrhunderten haben die Menschen im Libanon in Erziehung und Ausbildung investiert. Unser Ausbildungssystem hat einen exzellenten Ruf in der Region, und junge Libanesen finden Jobs in den Golfstaaten. Ihre Rücküberweisungen helfen den Familien zuhause. Jetzt müssen wir in unsere Wissensgesellschaft investieren, um neue Jobs zu schaffen und unsere Exporte wieder zu steigern. So können wir notwendige Devisen erwirtschaften und das Haushaltsdefizit abbauen.

Michel Constantin arbeitet seit mehr als 30 Jahren mit Non-Profit-Organisationen zusammen. Bei Pontifical Mission/CNEWA, dem päpstlichen Hilfswerk für Nothilfe und Entwicklungsarbeit im Nahen Osten ist er seit 1989 als Projekt-Koordinator, -Manager und -Leiter tätig.

Das Interview erschien zuerst in der Publikation Schuldenreport 2021


Schuldenreport 2021

Der Schuldenreport bewertet das Überschuldungsrisiko von Entwicklungs- und Schwellenländern, analysiert die Auswirkungen der Corona-Krise und benennt politische Handlungsoptionen zur Überwindung der Schuldenkrise.

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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

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