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Ein Zeichen des Miteinanders

Diese vier Seiten Papier liegen schwer in meinen Händen. Vier Seiten Papier, in denen so viel Leid und Ratlosigkeit stecken. Vor mir liegt die traurige Bilanz aus zehn Jahren Krieg in Syrien. Ich lese die ersten Zeilen des aktuellen Lageberichts unseres Nahost-Verbindungsbüros, und plötzlich finde ich mich mitten in den Trümmern von Aleppo wieder. Nur allzu gut weiß ich, welche grausamen Schicksale hinter diesen knappen Berichten stecken.

Heute blicke ich zurück auf zehn Jahre, in denen ich so oft zu unseren Partnern in dieser Region gereist bin. Meine Arbeit bei MISEREOR endet bald und ich verabschiede mich in den Ruhestand. Doch einige Begegnungen auf meinen Reisen lassen mich nicht los und werden mich darüber hinaus begleiten. Zum Beispiel die mit Pater Ibrahim von den Franziskanern: Gemeinsam mit ihm bin ich stundenlang durch eine Landschaft aus Ruinen und Schuttbergen gefahren. Das schiere Ausmaß der Zerstörung hat mir die Sprache verschlagen. Schnell wurde mir klar: Viele Tote liegen noch immer verschüttet unter der tonnenschweren Last ihrer zerbombten Häuser. Diese Trümmerlandschaft erzählt vom unvorstellbaren Leid der Menschen.

Pater Ibrahim zeigt Martin Bröckelmann-Simon das fast völlig zerstörte Ost-Aleppo. Das Leid der Bevölkerung ist unvorstellbar groß… © MISEREOR

Leben, Aufwachsen und Hoffen im Krieg

Mit den Jahren ist der Krieg auf furchtbare Weise zu einem festen Bestandteil des Lebens der Menschen vor Ort geworden. Immer wieder ist Schusswechsel zu hören. Eltern erklären dazu, dass man nur die Kinder fragen müsse, um welche Waffen es sich handelt. Granaten, Mörser, Maschinengewehre – die Mädchen und Jungen können anhand der Geräusche die Waffengattungen und sogar deren Marken auseinanderhalten. Kinderspiele in Zeiten des Krieges. Aber neben großer Not und tiefer Traumatisierung ist mir auf meinen Reisen immer wieder auch ein wenig Hoffnung begegnet. So habe ich deutlich das Bild eines Mannes vor Augen, der die Fensterläden seines halb zerstörten Hauses repariert hat. Aufkeimen des Lebens in den Ruinen. Menschen, die aufräumen, Habseligkeiten suchen, zaghafter Wiederaufbau.

Die Corona-Pandemie macht es unmöglich, doch wenn ich jetzt noch einmal reisen könnte, würde ich noch immer auf viel Verzweiflung und Leid treffen. Denn man darf sich keine Illusionen machen, der Krieg ist nicht vorbei. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Über eine halbe Million Menschen haben ihr Leben verloren. Mehr als zwölf Millionen Menschen mussten fliehen. Unzählige wurden schwer verletzt. Rund 80 Prozent der Syrerinnen und Syrer, die noch in ihrer Heimat geblieben sind, leben heute in bitterer Armut. Knapp fünf Millionen Kinder sind seit Beginn des Krieges geboren worden. Sie wissen nicht, wie sich Frieden anfühlt, wie es ist, normal zur Schule zu gehen und unbeschwert draußen zu spielen.

Der Schulweg für syrische Kinder führt fast ausschließlich durch vom Krieg zerstörte Landschaften. © Pro Terra Sancta/MISEREOR

Keine Atempause

Der Krieg zermürbt die Menschen – und jetzt trifft sie zusätzlich noch Corona. Die weltweite Pandemie erschüttert das ohnehin fragile Gesundheitssystem. Ein MISEREOR-Partner aus Aleppo berichtet, dass die Bevölkerung diese Bedrohung stoisch erträgt, obwohl die Voraussetzungen schwer sind: „Wir arbeiten in Gebieten, in denen aufgrund des Krieges keinerlei medizinische Versorgung besteht.“ Schon im Juli gab es laut offiziellen Angaben über 1.900 Tote und knapp 26.000 Infizierte. Getestet wird jedoch kaum und die Dunkelziffer ist hoch.

Woher sollen die Menschen in Syrien in dieser Gemengelage die Kraft nehmen, um wieder zu heilen? Es wird eine schwere Aufgabe für die nächsten Generationen sein, die tiefen Gräben zu überwinden, die mittlerweile zwischen den verschiedenen kulturellen, religiösen und konfessionellen Gruppen bestehen. Die Menschen sind zwischen die Mahlsteine globaler und regionaler Interessenpolitik geraten. Es zeigt sich, dass Europa in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wenig handlungsfähig ist und als „Friedensmacht“ außerhalb der eigenen Grenzen derzeit kaum etwas bewirkt.

Für den Wiederaufbau braucht es mutige Frauen und Männer, die den Menschen neue Hoffnung geben. © JRS/Meyer/MISEREOR

MISEREOR hilft — über Grenzen hinweg

Für mich ist es ein Gebot der Menschlichkeit, dass MISEREOR als christliches Hilfswerk ungeachtet von Religion und politischer Haltung hilft, wo es nur möglich ist. Denn für mich steht fest: Eine friedliche Zukunft kann nur im Miteinander der Religionen und Kulturen liegen! Es gibt mir Zuversicht, dass diese Überzeugung auch unsere Projektpartner teilen. Sie stehen seit Beginn des Krieges an der Seite der Menschen vor Ort – selbst unter Granatenbeschuss. Die mutigen Frauen und Männer helfen ihren Mitmenschen, das Überleben zu sichern und die Schrecken des Krieges zu bewältigen.

Diesen selbstlosen Einsatz machen Sie, liebe Spenderinnen und Spender, durch Ihre Solidarität möglich. Seit dem Kriegsbeginn 2011 bis heute konnten wir von MISEREOR 19,8 Millionen Euro für 78 Projekte bereitstellen. Diese Unterstützung kommt nicht nur den Männern, Frauen und Kindern in Syrien zugute. Sie hilft auch den Geflüchteten in
den Nachbarländern Libanon, Jordanien und Irak sowie den Menschen, die sie trotz der eigenen schwierigen Situation aufnehmen. Sie legt den Grundstein zum Wiederaufbau, versorgt viele, die vor dem Nichts stehen, zunächst mit dem Nötigsten.

Die Partner von „Associazione pro Terra Sancta“ verteilen Nahrungsmittel, Medikamente und Hygieneartikel, um die Folgen der Corona-Krise abzumildern. © Pro Terra Sancta/MISEREOR, JRS/MISEREOR

Versorgung, wo die Not am größten ist

Zum Beispiel durch die Arbeit des Hilfswerks der Franziskaner „Associazione pro Terra Sancta“. Dieser MISEREOR-Partner unterhält in Syrien mehrere Sozialzentren. Hier stellt er Lebensmittel und Trinkwasser bereit, bietet medizinische Grundversorgung an und erstattet den ärmsten Familien die Kosten umfangreicherer Behandlungen. In Aleppo, das stark zerstört wurde, halfen die Franziskaner, Wohnraum instand zu setzen. „Den Menschen fehlt es an allem. Ihre Häuser sind zerstört, Lebensmittel sind kaum zu bezahlen“, berichtet ein Franziskanerbruder. Der Ausbruch des Coronavirus hat die Situation noch erheblich verschärft. Und wieder waren die Franziskaner als Erste zur Stelle, um die Folgen abzumildern: mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Hygieneartikeln. Durch Beratung und Information zu COVID-19 stärkten sie zudem das Bewusstsein für Prävention in der Bevölkerung.

Schritte auf dem Weg zur Heilung

Auch unser zweiter Partner, den ich Ihnen heute vorstellen möchte, hat sich um die Gesundheitsfürsorge in der Region verdient gemacht. Der JRS (Jesuit Refugee Service, Flüchtlingsdienst der Jesuiten) betreibt in Aleppo ein Krankenhaus, das auch unter Beschuss seine Arbeit aufrechterhalten konnte. Hier werden Verletzte und Kranke behandelt, Geburten begleitet, Schwangere und Neugeborene versorgt. Pater Sami Hallak, den Leiter des Projektpartners, durfte ich auf einer meiner Reisen kennen lernen. Die Begegnung mit ihm hat mich tief beeindruckt. Er verkörpert Furchtlosigkeit und mitreißende Zuversicht. Das spiegelt die wertvolle Arbeit des JRS wider: Sie setzt auf Hilfe im Hier und Jetzt, aber auch auf Perspektiven für die Zukunft. Deshalb bietet der JRS Unterricht und spielerisches Lernen für mehr als 300 Kinder an. Damit schafft er einen Rahmen, in dem die Kinder zunächst einmal Kinder sein dürfen und dann Schritt für Schritt lernen, zu lernen.

Den Wert der psychosozialen Arbeit unserer Partner, das wurde mir auf meinen Reisen bewusst, können wir nicht hoch genug schätzen. Was die Menschen im Krieg erlebt haben, hat sie schwer traumatisiert. Sie können die Geschehnisse nicht allein verarbeiten. Viele Erwachsene sind so mit dem Überleben beschäftigt, dass für die Kinder und deren seelische Heilung kaum Zeit bleibt. Mit unermüdlichem Einsatz, mit Wärme und Zuwendung schaffen es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des JRS, in den traumatisierten Kindern wieder Vertrauen zu wecken.

Krieg und andauernde Unsicherheit haben in den Seelen vieler syrischer Kinder tiefe Spuren hinterlassen. Hier setzt die psychosoziale Arbeit von JRS an. © JRS/MISEREOR

Bleiben Sie an unserer Seite!

Während ich den Lagebericht aus Nahost wieder schließe, wird mir einmal mehr klar: Wir müssen unsere Hilfe für die Menschen in diesem geschundenen Land mit voller Kraft fortsetzen. Lassen wir nicht zu, dass die Menschen in Syrien in Zeiten der Corona-Pandemie und mit dem Ende der schwersten Kriegshandlungen vom Radar der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden. Schauen wir weiter hin, damit der furchtbare Ausnahmezustand in Syrien nicht zur Normalität wird.

Denn wenn ich eins auf meinen Reisen erkannt habe, dann das: Die Menschen brauchen unsere Anteilnahme, sie brauchen unsere deutliche Zusage „Dein Schicksal ist mir nicht egal!“


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Dr. Martin Bröckelmann-Simon war Geschäftsführer für Internationale Zusammenarbeit bei Misereor.

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