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Zeitenwende in Kolumbien?

Ein Land zwischen Krisenstimmung und Hoffnungsschimmer, in dem die Menschen sich nach Frieden sehnen.

Wahlsiegveranstaltung von Gustavo Petro und Francia Márquez vom Pacto Histórico in der Movistar Arena in Bogota © César Santoyo | Colectivo Sociojurídico Orlando Fals Borda (OFB)

„Es würde 17 Jahre dauern, wenn wir jedem Opfer des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien eine Schweigeminute widmeten.“ Dieser eindringliche Satz von Padre Francisco de Roux, Präsident der kolumbianischen Wahrheitskommission, hallt nach im großen Saal des Theaters Jorge Eliécer Gaitán in Bogotá. Es ist der 28. Juni dieses Jahres, der Tag, an dem die kolumbianische Wahrheitskommission ihren finalen Bericht vorstellt. Fast sechs Jahre nach Unterzeichnung des Friedensvertrags mit der FARC-Guerilla (Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia) und kurz vor der Vereidigung des ersten linksgerichteten Präsidenten Kolumbiens am 7. August, Gustavo Petro, könnte das südamerikanische Land vor einer Zeitenwende stehen.

Petro selbst ist vor Ort dabei, als der klare und zum Teil emotionale Bericht der Wahrheitskommission den Anwesenden und der Bevölkerung weit über die Hauptstadt hinaus präsentiert wird. Sein Vorgänger, der noch amtierende Präsident Iván Duque, fehlt. Er zog es vor, außer Landes zu sein. Ein klares Statement, das die Politik der aktuellen Regierung widerspiegele, meint Stefan Tuschen, Kolumbien-Referent bei Misereor: „Unter Duque hat sich der Staat kaum um die Versprechen im Friedensvertrag gekümmert. Fünf Jahre nach seiner Unterzeichnung Ende 2016 waren nur rund 30 Prozent der Vorhaben umgesetzt – das ist viel zu wenig.“
Im Gegensatz dazu hat die kolumbianische Wahrheitskommission Großes geleistet, lautet die Einschätzung von Azucena Zuluaga Buitrago von der Misereor-Partnerorganisation Asociación Regional de Mujeres del Oriente Antioqueño (AMOR): „In weniger als vier Jahren hat sie den internen bewaffneten Konflikt zwischen 1958 und 2016 analysiert und aufgearbeitet. Für den weiteren Prozess der Versöhnung hat dies eine wichtige Bedeutung. Die Probleme zu verstehen ist Grundlage dafür, sie zu überwinden.“

Kolumbien ist seit fast 60 Jahre im Bürgerkrieg

Fast 60 Jahre dauerte der bürgerkriegsähnliche Zustand im Land an. Jahrzehntelang griffen Guerillas wie die FARC und ELN (Ejército de Liberación Nacional) den Staat an – ursprünglich, weil dieser nichts gegen soziale Ungleichheit unternommen habe. Auch die Kontrolle des Drogenhandels spielte eine entscheidende Rolle.
Mit der Zeit weiteten sich die Spannungen aus, paramilitärische, regierungsnahe Gruppierungen und linksgerichtete Guerillas bekämpften sich. Der blutige Konflikt zog sich hin und traf vor allem die Zivilbevölkerung: „Etwa eine halbe Million Menschen wurden getötet, davon mehr als 80 Prozent Zivilisten – und hierbei handelt es sich nur um die offiziellen Daten. Wenn man berücksichtigt, dass allein 120000 Personen verschwunden und viele Opfer gar nicht registriert sind, dürften die Zahlen noch viel höher ausfallen“, bilanziert Zuluaga Buitrago. „Rund 10 Millionen Kolumbianer sind Opfer geworden – durch Ermordung, Verschwindenlassen oder Vertreibung. Die Frage, die wir uns da stellen müssen, ist ganz klar: Wie konnte und kann so etwas immer noch geschehen?“

Kolumbien Proteste 2021 Graffiti
Künstler, Aktivistinnen und Angehörige gewaltsam Verschwundener haben vor dem Sitz der Sondergerichtsbarkeit für den Frieden in Bogotá ein rund 200 Meter langes Graffiti auf die Straße gemalt. © Fundación Chasquis / Carlos Gallardo

Anhaltende Gewalt im ganzen Land

Der damalige kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos handelte 2016 schließlich einen Friedensvertrag mit der FARC aus, was dem Land jedoch nur eine kurze Atempause verschaffte. Mit anderen Guerilla-Gruppen, unter anderem der ELN, gibt es bislang noch kein solches Abkommen, so dass nach einer Phase zurückgehender Gewalt, besonders seit dem Regierungswechsel 2018, die Konflikte wieder aufflammten. Dazu sagt Misereor-Referent Tuschen: „In den vergangenen zwei Pandemie-Jahren hat der Staat nicht nur wenig Präsenz gezeigt, sondern sich eher noch stärker zurückgezogen. Bewaffnete Gruppierungen haben diese Gelegenheit genutzt und ihre Macht ausgebaut.“ Die Bilanz des noch amtierenden Präsidenten Duque fällt dementsprechend negativ aus: Laut dem kolumbianischen Institut für Entwicklung und Frieden (Indepaz) wurden vom 7. August 2018 bis zum 4. Juni dieses Jahres 930 Menschenrechtsverteidiger ermordet, es gab 261 Massaker mit 1144 Toten.
Bei diesen drastischen Zahlen ist der Wunsch nach Versöhnung groß, betont Zuluaga Buitrago: „Aktuell ist besonders die Situation der ehemaligen Kämpfer und Führungspersönlichkeiten der Zivilgesellschaft besorgniserregend, mehr als 1000 Tote wurden allein nach Unterzeichnung des Friedensvertrages registriert. Dieser Krieg ist aussichtslos, das Land sehnt sich nach einer friedlichen Zukunft.“

Unzufriedenheit mit sozialen Missständen

Der ganze Unmut und das Verlangen nach einem Wandel zeigte sich im Frühjahr 2021 während des sogenannten Nationalstreiks: Landesweit ging insbesondere die Jugend auf die Straße, ursprünglich um gegen eine Steuerreform und die neoliberale Wirtschaftspolitik zu demonstrieren. „Die Proteste haben sich schnell ausgeweitet. Die Bevölkerung hat ihrer Unzufriedenheit mit den sozialen Missständen in Kolumbien, der Gewalt und dem schleppenden Vorankommen des Friedensprozesses Ausdruck verliehen“, berichtet Tuschen. Auch hier gaben die Behörden ein eher unrühmliches Bild ab: Für mindestens 28 von insgesamt 46 Tötungsdelikten, die der Hohe Kommissar für Menschenrechte bei den Protesten dokumentiert hat, waren staatliche Sicherheitskräfte verantwortlich.

Petro verspricht politischen Wandel

Die Erwartungen an die Präsidentschaftswahlen 2022 waren deshalb bereits im Vorfeld hoch. Mit dem Sieg von Gustavo Petro und Francia Márquez vom Pacto Histórico hoffen nun viele Menschen auf eine politische Veränderung: 50,44 Prozent der Wahlbeteiligten entschieden sich für die beiden, womit sie sich gegen den Rechtspopulisten Rodolfo Hernández und seine Vize-Kandidatin Marelen Castillo durchsetzen konnten.
Petro und Márquez stehen für einen Wandel der bislang traditionell rechtsgerichteten Demokratie, sagt Tuschen: „Zentrale Forderungen zielen beispielsweise auf Umweltschutz und eine Abkehr vom Abbau fossiler Rohstoffe wie Öl oder Kohle hin zu erneuerbaren Energien ab. Auch die Gleichberechtigung von Frauen und Männern steht auf der Agenda, ebenso wie eine Steuerreform, welche die Bevorteilung von extrem Reichen abschaffen möchte. Dies ist eine Kehrtwende im Vergleich zur Politik der vergangenen Jahre.“
Besonders wichtig war einem Großteil der Bevölkerung die Versöhnung. „Petro und Márquez schreiben dem Frieden eine entscheidende Rolle zu. Das ist es, was wir jetzt brauchen“, so Azucena Zuluaga Buitrago.
Die Zeichen stehen gut, dass zumindest Bewegung in die Gespräche kommt: Bereits unmittelbar nach der Wahl des neuen Präsidenten und seiner Vizepräsidentin signalisierte die ELN Gesprächsbereitschaft. Besondere Hoffnungen liegen zudem auf Francia Márquez: „Sie ist die erste afrokolumbianische Vizepräsidentin Kolumbiens und eine anerkannte Umweltschützerin aus der vom Konflikt so gebeutelten kolumbianischen Pazifikregion. Während ihrer Wahl-Kampagne hat sie den Menschen am Rande der Gesellschaft das Gefühl gegeben, repräsentiert zu sein und eine Stimme zu haben“, meint Zuluaga Buitrago.

Herausforderungen für das neue Duo an der Spitze

Dem Optimismus zum Trotz sei jedoch nicht zu leugnen, dass die Regierung vor großen Herausforderungen stehe, so die Misereor-Partnerin: „Derzeit sind laut einem Bericht der Welternährungsorganisation und des Welternährungsprogramms rund 7,3 Millionen Menschen von Ernährungsunsicherheit betroffen, wir sind das Land mit dem höchsten Hungerrisiko in Südamerika.“ In den vergangenen Jahren legte die Regierung den Fokus auf Bergbau und Energiegewinnung statt auf ländliche Entwicklung. Das Ergebnis dessen sei nun, dass ein Drittel der Bevölkerung keine drei Mahlzeiten pro Tag zu sich nehmen könne.
Die neue Regierung habe dieses Problem zwar erkannt und wolle es angehen, leicht werde dies jedoch nicht: „Die Überwindung des Hungers erfordert eine umfassende Reform des ländlichen Raums und eine drastische Abkehr von einer auf Rohstoff-Abbau fixierten hin zu einer produktiven Wirtschaftspolitik. Eine der größten Hürden wird jedoch die angedachte Steuerreform sein“, lautet die Einschätzung von Azucena Zuluaga Buitrago. Letztere würde die besonders wohlhabenden Menschen stärker in die Pflicht nehmen. „Diese werden sich jedoch dagegen wehren, schließlich haben sie von der bisherigen, unternehmerfreundlichen Politik profitiert.“
Neben all den Zweifeln und Unwägbarkeiten steht jedoch eines fest: Nach Jahrzehnten des Konfliktes darf Kolumbien zumindest auf einen Aufbruch hoffen.


So hilft Misereor in Kolumbien

Misereor fördert in Kolumbien derzeit mehr als 110 Projekte von rund 80 Projektpartnern. Jährlich stehen dafür durchschnittlich 8 Millionen Euro zur Verfügung. Thematischer Schwerpunkt dabei ist unter anderem die Menschenrechtsund Friedensarbeit. Die Asociación Regional de Mujeres del Oriente Antioqueño (AMOR) ist seit 2015 eine dieser Misereor- Partnerorganisationen und setzt sich insbesondere für die politische Beteiligung von Frauen und Frauenrechte ein.

Geschrieben von:

Ansprechtpartnerin

Jana Echterhoff ist Länderreferentin für Lateinamerika bei Misereor.

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