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Präsident Bolsonaro und der Hunger in Brasilien  

In Brasilien geht der Wahlkampf in seine heiße Phase. Mit Pauken, Trompeten und vielerlei leeren Versprechungen bewegt sich Brasiliens politische Elite in einem Marathonlauf kreuz und quer durchs Land. Sie befinden sich auf Stimmenfang. Dass sich dabei manch ein Politiker im Ton vergreift und Hasspredigten sowie Fake News mit Wahlpropaganda verwechselt, gehört bedauerlicherweise inzwischen zum brasilianischen Alltag.

Brasiliens Justiz kommt mit den Anklagen gegen solche Diffamierungen nicht hinterher. Allein gegen Brasiliens Präsidenten Jair Bolsonaro und seine Söhne laufen am Obersten Gericht unzählige solcher Verfahren. Auch hat der Wahlkampf bereits seine ersten Todesopfer gefunden. Zwei Unterstützer der Arbeiterpartei (PT) des ehemaligen Präsidenten Lula da Silva wurden kaltblütig ermordet, einer davon auf seinem eigenen Geburtstag. Auch ein Bolsonaro-Anhänger kam auf tragische Weise ums Leben. Nachdem er mit seinem Pickup eine lokale PT-Politikerin verfolgt und ihr Auto ramponiert hatte, floh er mit erhöhter Geschwindigkeit und stürzte in einen Abgrund. Es ist zu befürchten, dass in den nächsten Tagen und Wochen weitere solcher Schlagzeilen Brasiliens Zeitungen füllen werden.

Brasilianer mit Flaggen
Mit der Präsidentschaftswahl steht einiges auf dem Spiel: Für die einen die eigene Machtposition, für die anderen das nackte Überleben. © Stefan Kramer

Die Anspannung in Brasiliens Hauptstadt steigt von Tag zu Tag. Nach vier Jahren Bolsonaro und der Rückkehr von Brasilien auf der Landkarte des Hungers geht es um viel. Für die Einen um den politischen Richtungswandel, das Auflehnen gegen die hohe Armut im Land und die Hoffnung und den Glauben auf einen Rückgang zur Normalität. Für die Anderen geht es darum, am Hebel der Macht zu bleiben, ihre Sichtweise der Welt zu verbreiten und Reichtum zu akkumulieren. Auf Kosten der natürlichen Ressourcen des Landes und des armen Teils der Bevölkerung.

Brasiliens Rekorde der Zerstörung

Von Jahr zu Jahr gibt es Berichte über neue Rekorde in der Zerstörung von Brasiliens Wäldern, so auch in diesem. Laut dem Institut IMAZON wurden in den ersten acht Monaten 10.781 Quadratkilometer Amazonaswald zerstört. Eine Fläche halb so groß wie das Bundesland Hessen. Aber auch in anderen Ökosystemen finden schwere Verwüstungen statt, so zum Beispiel im Pantanal, einem Feuchtgebiet im Südosten des Landes. Die verheerenden Brände von 2021 haben dort 30 Prozent der natürlichen Vegetation zerstört. Großgrundbesitzer und Agrobusiness verstehen sich inzwischen sehr gut darin, von solchen flächendeckenden und höchst fragwürdigen Naturkatastrophen Profit zu schlagen. So erweitern sie ihren Profit, jedoch nicht immer auf legale Weise.

Psychokrieg zwischen Soja- und Zuckerrohrplantagen

Bei einem Besuch unseres Projektpartners FASE-Mato Grosso haben wir in der kleibäuerlichen Ansiedlung „Roseli Nunes“ den Kleinbauern de Souza getroffen. Vor Jahren, sprach die nationale Behörde INCRA, das Institut für Landreformen, den kleinbäuerlichen Familien ihr Land zu. Zunächst war die Freude groß und die Menschen waren voller Euphorie und Begeisterung. Nach und nach baute die Familien sich so eine bescheidene, aber eigene Existenzen auf. Doch auf meine Frage, was die Bolsonaro-Regierung Ihnen gebracht habe, antwortete Souza nur „Hass, Unfrieden, mehr Reichtum für die Reichen und mehr Armut für die Armen“.

Denn über die Zeit hat sich die Landschaft um die Siedlung stark verändert. Heute wird die kleine Gemeinde wie eine Insel im Meer von Soja und Zuckerrohrplantagen eingeschlossen. Das ohnehin schwierige Verhältnis zu den Großgrundbesitzern verschlechterte sich, nachdem man Phosphat-Anreicherungen unter den Füßen der Kleinbauern entdeckte. Seither führt das Agrobusiness einen psychologischen Krieg, um die Familien von ihrem Land zu vertreiben. Da kann es schon passieren, dass beim Versprühen der Pestizide mit dem Flugzeug aus der Luft das Ziel leicht verfehlt wird und Glyphosat in die Luft gelangt – eine giftige Substanz, die letztlich über den Dächern der Kleinbauern herunterrieselt und ihre Gesundheit gefährdet.
Dass die meisten dieser unzähligen in der EU verbotenen, hochgiftigen Pestizide aus Deutschland stammen, soll in diesem Blog nur eine Randnotiz sein, und daran erinnern, dass wir in Europa mit ungleichen Maß messen.

Sojafeld
Tausende Hektar Regenwald werden jährlich in Brasilien zersört. Sie schaffen Platz für den Ausbau von bspw. Soja- oder Zukerrohrfeldern, deren Erzeugnisse jedoch nicht den Einwohner*innen zugutekommen. © Kopp / Misereor

Der Druck des Agrobusiness auf die Gemeinde „Roseli Nunes“ ist nur eines von tausenden Beispielen, wie heute im ganzen Land gegen strukturschwache, teilweise schutzlose Bevölkerungsgruppen wie Indigene, Quilombolas und Kleinbauern, vorgegangen wird. Die Bolsonaro-Regierung spielt in diesem Spiel eine wichtige und aktive Rolle, ist sie doch für die systematische Desstrukturierung staatlicher Kontrollinstanzen zur Einhaltung von Land-, Umwelt und Menschenrechten verantwortlich. Immerhin gibt es die brasilianischen Gerichte, die zumindest teilweise vulnerable Bevölkerungsgruppen vor gierigen Politikern und Großgrundbesitzern schützen. Ohne sie wäre die bereits ohnehin dramatische Situation im Land „noch dramatischer“.

Die Ernährungsunsicherheit steigt

Vertraut man den jüngsten Statistiken des brasilianischen Forschungsnetzwerks Rede PenSSAN, leben 125,2 Millionen (jede*r zweite) Brasilianer*innen in Ernährungsunsicherheit. Sprich, die Menschen haben keinen regelmäßigen Zugang zu lebenswichtigen Nährstoffen. Laut dem Institut PNAD (Pesquisa Nacional por Amostra de Domicílios) sind heute 33,1 Millionen Brasilianer*innen von Hunger betroffen. Im Jahr 2013 waren es im Vergleich dazu „nur“ 7 Millionen Brasilianer*innen. Dabei gibt es große regionale Unterschiede. Im Norden und Nordosten ist die Situation besonders schlimm. Dort leidet ein Viertel der Bevölkerung unter Hunger. Im Bnudestaat Alagoas sind es sogar 36,7 Prozent.

Die Ernährungsunsicherheit zeigt in Brasilien ein weiteres grausames Gesicht. In Haushalten mit Kindern unter 10 Jahren ist der Hunger besonders groß. Vor ein paar Wochen meldete sich bei der Militärpolizei in Belo Horizonte bspw. ein kleiner Junge mit dem Satz „Wir haben nichts zu essen, ich habe Hunger“.
40 Prozent dieser Haushalte leben heute in Brasilien mit Ernährungsunsicherheit.

Gefüllter Teller gegen Hunger
Ein gefüllter Teller ist für viele in Brasilien eher die Ausnahme als die Regel. © Brockmann / Misereor

Bolsonaros Hungerpolitik

Bolsonaro fechtet öffentlich an, dass im Land kein größeres Ausmaß an Hunger existiert. Für Ronilson Costa Silva, Leiter der nationalen Landpastoral CPT, Partner von Misereor, ist das das eigentliche Problem. „Ein Präsident, welcher die sozialen Probleme in seinem Land leugnet, wird die von ihm geförderten Politiken, zur Ungleichverteilung und zur Konzentration des Kapitals nicht überdenken und den Hunger im Land weiter vorantreiben“, erklärt der Menschenrechtsverteidiger.
Ähnlich sieht es Vicente Puhl vom Schweizer Hilfswerk HEKS. Er macht in der Negation des Präsidenten, sei es gegenüber dem der Folgenschweren Covid-19 Pandemie oder der aktuellen Ernährungsunsicherheit im Land, ebenfalls das eigentliche Problem aus. So wundert es nicht, dass Bolsonaro in seiner Wahlpropaganda jegliche Versäumnisse und Verantwortung ablehnt und stattdessen die Pandemie und den Ukraine-Krieg für die Not im Land verantwortlich macht.

Einige Daten deuten darauf hin, dass die Bolsonaro-Regierung für die Verschärfung des Hungers maßgeblich mitverantwortlich ist. In den vergangenen Jahren wurde unter der Bolsonaro-Regierung das für die Versorgung und Verteilung von Nahrungsmitteln zuständige Unternehmen CONAB weitgehend desstrukturiert. Bereits im ersten Regierungsjahr wurden landesweit 30 Lagerhallen des Unternehmens zur Aufbewahrung von kleinbäuerlichen Produkten geschlossen.
Noch in 2012 investierte die damalige PT-Regierung umgerechnet etwa 230 Millionen Euro in das Programm PAA, zur Beschaffung von Nahrungsmitteln aus Familienbetrieben. Unter der Bolsonaro-Regierung flossen im vergangenen Jahr nur umgerechnet 11 Millionen Euro in das Programm. Der Präsident hat CONAB dadurch in wenigen Jahren komplett desstrukturiert und unzählige weitere im Land verteilte Lagerhallen geschlossen. „Bolsonaro hat das PAA Programm vollkommen zerstört“, beklagt sich der PT-Senator Paulo Rocha. „Das ist nicht nur inkompetent, sondern grausam.“ Noch vor einigen Tagen lobte Bolsonaro sich dafür, die Welt mit Soja und Mais zu ernähren. Währenddessen hat er jedoch die kleinbäuerliche, familiäre Landwirtschaft, die zum überwiegenden Teil für die Ernährung der Brasilianer*innen verantwortlich ist, nicht nur vergessen, sondern erheblich geschwächt.

Wahlkampf auf den Schultern der Kinder

Auch das in der Welt bekannte brasilianische Schulspeisungsprogramm (Pnae), welches Millionen von brasilianischen Kindern mit Schulspeisen versorgt, vernachlässigte Bolsonaro während seiner Amtszeit völlig. Theoretisch muss jeder Landkreis mindestens 30 Prozent der Pnae-Gelder für Produkte aus kleinbäuerlichen Landwirtschaften verwenden. Das wird aufgrund fehlender Kontrollen jedoch häufig missachtet. Viele Schulen beklagen sich deshalb darüber, dass sie nicht ausreichend mit Lebensmittel versorgt werden. Erst vor wenigen Tagen wurde so ein Fall in einer Grundschule in Belo Horizonte bekannt, bei dem sich 280 Kinder zu viert ein Ei und eine Hand voll Reis teilen mussten. Für nicht wenige Kinder ist die Schulspeisung wohlgemerkt die einzige Mahlzeit am Tag.

Junge erhält ein Schulessen
Schulessen in Brasilien. Das staatliche Schulernährungsprogramm fördert eigentlich ein gesundes Schulessen aus lokaler bäuerlicher Landwirtschaft. © Kopp / Misereor

Wegen der beunruhigenden Ernährungslage im Land verabschiedete das Parlament Ende August ein Gesetz, um die Fördermittel für Schulspeisen um 200.000 Millionen Euro aufzustocken. Doch Bolsonaro legte sein Veto zum Gesetzesentwurf ein, was ihm in der brasilianischen Presse scharfe Kritik und Vorwürfe für unmenschliches Handeln einbrachte. Nur wenige Tage später kürzte Bolsonaro 60 Prozent des Jahreshaushalts für das Programm „Farmacia Popular“, durch das arme Bevölkerungsgruppen kostenlos Medikamente erhalten (Quelle: Rede Brasili Atual). Die der Bevölkerung entrissenen Mittel fließen nun in den umstrittenen „Orcamento Secreto“ (geheimer Haushalt). Ein für Abgeordnete eingerichtetes Budget, bei dem diese, bei fehlender Transparenz, die Zuwendung „Frei nach Schnauze“, ausgeben können. Greift das Oberste Gericht nicht noch ein, wird der Großteil der Finanzmittel wohl in Wahlkampagnen fließen. Mit anderen Worten: „Brasiliens Schulkinder bekommen nicht ausreichend zu essen, damit Politiker Wahlkampf führen“. Klingt paradox, deutet aber auch auf die Tiefe des Problems hin.  

Ich möchte diesen Blog mit einer eigenen Feststellung beenden. „Die Bolsonaro-Regierung ist sehr wohl für die Zuspitzung des Hungers und der extremen Armut im Brasilien verantwortlich. Die Ursachen dafür sind aber tiefergreifender und stehen im direkten Zusammenhang mit einer extremen Ungleichverteilung und Chancenungleichheit im Land und in der Welt“.

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Stefan Kramer leitet die MISEREOR Dialog- und Verbindungsstelle in Brasilia/Brasilien.

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