Im Interview erzählt Barbara Schirmel, Referentin für Gendermainstreaming und Diversity bei Misereor, welche Bedeutung das Leitwort der Fastenaktion 2023 „Frau. Macht. Veränderung.“ für Misereor sowie die Projektpartner hat. Außerdem spricht sie darüber, welche Rolle Geschlechtergleichheit für ein kirchliches Werk spielt.
Frau Schirmel, Sie waren Länderreferentin für Madagaskar und sind inzwischen Beauftragte für den großen Themenkomplex „Gender und Diversity“ bei Misereor. Welche Bedeutung hat das Leitwort „Frau. Macht. Veränderung.“ für ein Werk wie Misereor, aber auch für die Menschen auf Madagaskar, im globalen Süden?
Barbara Schirmel: In diesem Leitwort schwingen sehr viele Gedanken und Ebenen mit!
Frau: Es geht um Frauen, um ihre Rechte und um Gleichberechtigung. In Madagaskar sind das zum Beispiel die Rechte an Landeigentum und daran, an Entscheidungen beteiligt zu werden.
Macht: Weltweit liegt die Macht auf politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ebene überwiegend in der Hand von Männern. Diese Macht wird leider häufig auch missbraucht. Zugleich steckt in diesem Wort aber auch „Ermächtigung“ – Frauen werden ermächtigt, sich für ihre Rechte und Belange einzusetzen und an Entscheidungen beteiligt zu werden, gerade auch in den Projekten, die in der Misereor-Fastenaktion vorgestellt werden.
Veränderung: Veränderung bedeutet Wandel. In diesem Kontext geht es vor allem um einen positiven Wandel hin zu mehr Gleichberechtigung und Beteiligung von Frauen auf allen Ebenen.
„Frau. Macht. Veränderung.“ kann aber auch noch ganz anders gelesen werden, nämlich als Satz: Frauen sind keine Opfer! Sie sind stark, mutig und kreativ. Sie sind selber diejenigen, die sich für Veränderung einsetzen. Das gilt besonders für die Frauen in Madagaskar, die bei dieser Fastenaktion vorgestellt werden und zu Wort kommen. Misereor spricht sich gerade als katholisches Hilfswerk für die Gleichberechtigung aller Menschen aus: der Frauen, der Männer und auch der nicht-binären Menschen. Für mich schließt das auch die Überwindung überkommener Strukturen und Machtverhältnisse innerhalb der Kirche mit ein.
Welche Rolle spielt das Thema Geschlechtergerechtigkeit in den Projektinhalten, die Misereor finanziell unterstützt?
Barbara Schirmel: Misereor legt großen Wert darauf, dass die Projekte, die gefördert werden Männer und Frauen gleichermaßen an den Projektaktivitäten beteiligen. In fast zwei Dritteln aller geförderten Projekte ist die Gleichberechtigung der Geschlechter mindestens ein Nebenziel. Außerdem werden in Afrika, in Asien und Lateinamerika Projekte gefördert, die explizit entweder die Lebenssituation von Frauen und Mädchen verbessern, zum Beispiel durch Berufsbildung und Frauengesundheit oder die gezielt strukturelle Veränderungen für mehr Geschlechtergerechtigkeit anstreben. Hier ist unter anderem die Arbeit mit Männern besonders wichtig. Misereor steht zu diesen Themen ständig im Dialog mit Partnerorganisationen.
In Diskussionen bei Misereor galt lange die Aussage „Die Zukunft Afrikas liegt in Frauenhänden.“ Wie ist diese Zuordnung gemeint und konnte sich diese Überzeugung bewahrheiten?
Barbara Schirmel: Nein, wenn man politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Positionen in Afrika ansieht. Die liegen – mit sehr wenigen Ausnahmen – nach wie vor fest in männlicher Hand. So sind Frauen zum Beispiel nur selten an Friedensverhandlungen, wie im Südsudan oder Äthiopien beteiligt. Friedensabkommen wären möglicherweise nachhaltiger, wenn bei den Verhandlungen Frauen gleichermaßen am Tisch säßen. Der weltweit spürbare Rechtsruck – wie auch die Corona-Pandemie – hat leider auch in Afrika zu Rückschritten geführt, was Frauenrechte und -beteiligung angeht.
Sie sind seit 31 Jahren im internationalen Kontakt mit Projektverantwortlichen: Wie waren ihre Erfahrungen, als Frau aus Deutschland in einer vielleicht eher patriarchalisch geprägten Kultur zu verhandeln, zu vernetzen, zu kommunizieren?
Barbara Schirmel: Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn ich komme ja nicht nur als „Frau“ nach Afrika oder Lateinamerika. Ich gehöre ja gleichzeitig durch meine Herkunft, meine Hautfarbe und meine Bildung einer privilegierten Gruppe der Menschheit an, was natürlich (auch wenn ich das nicht möchte) Diskussionen und Verhandlungen beeinflusst. Außerdem bin ich ja auch die Vertreterin einer Geberorganisation, von der die lokale Organisation unter Umständen abhängig ist. Das bringt ein zusätzliches Ungleichgewicht in den Austausch mit den Menschen vor Ort.
In fast allen Ländern, in denen Misereor Projekte fördert, ist zwar eine europäische Sprache eine sogenannte „Verkehrssprache“, die es uns ermöglicht, vor Ort mit Partnerorganisationen zu kommunizieren. Die allermeisten Menschen, die an den Projekten beteiligt sind, sprechen lokale Sprachen. Das erschwert oft den direkten Austausch beziehungsweise ist immer von Dolmetscher*innen abhängig.
Auf meiner ersten Dienstreise 1993 nach Mali habe ich mit den Männern des Dorfes gegessen, obwohl ich eine Frau war, nur wegen meiner Hautfarbe und meiner Herkunft. Die Frauen des Dorfes haben hinterher die Reste in einer Hütte gegessen. Beim Rundgang durch das Dorf ist eine Frau auf mich zugegangen – sie wird nicht viel älter als ich gewesen sein, sah aber schon sehr abgearbeitet aus – und hat meine Handfläche neben ihre gehalten. Meine war glatt, ihre voller Schwielen von harter körperlicher
Arbeit. Diese Begebenheit zeigt sehr deutlich wie unterschiedlich unsere Lebensverhältnisse sind. Ich spüre aber auch viel Verbundenheit, gerade mit den Frauen in unseren Projekten, selbst wenn wir nicht dieselbe Sprache sprechen: Diese äußert sich dann durch Gesten, Lachen und körperliche Berührung.
Was können wir tun, um uns weltweit für mehr Gleichberechtigung der Geschlechter einzusetzen?
Barbara Schirmel: Es fängt in den eigenen Familien klein an: Wie gehe ich mit meinen Söhnen und Töchtern um? Was vermittele ich ihnen? Welche Haltung habe ich gegenüber Menschen, die anders sind als ich?
Auch bei uns sind wir noch weit von echter Geschlechtergerechtigkeit entfernt: Wir können uns einsetzen, dass die Belange von Frauen mehr berücksichtigt werden. Wir leben in einem Land, in dem wir unsere Meinung öffentlich kundtun dürfen: Also lasst uns aktiv zum Beispiel Frauen aus dem Iran unterstützen, wenn sie demonstrieren, und uns an ihre Seite stellen. Damit meine ich nicht nur uns Frauen, sondern auch die Männer.
Wir sollten immer wieder auch den Austausch mit Männern suchen und sie ermutigen, sich mehr einzubringen, beispielsweise im Haushalt und der Kindererziehung. Viele tun das schon, aber auch da ist noch viel Luft nach oben. Wir brauchen mehr Männer in der Gesellschaft, die sich als „Feministen“ für Gleichberechtigung einsetzen.
Und nicht zuletzt können wir auch finanzielle Hilfe leisten, indem wir gerade Projekte und Initiativen unterstützen, die sich für Gleichberechtigung und die Rechte benachteiligter Gruppen stark machen, für Frauen und Mädchen, aber auch Mitglieder der queeren Communities oder Menschen mit Behinderung.
► Interview mit Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel über Geschlechtergerechtigkeit und das Leitwort „Frau. Macht. Veränderung.“
Sie sind Visionärinnen. Kämpferinnen. Trägerinnen von Entwicklung. Sie sind „Starke Frauen“. In unserer Reihe stellen wir sie und ihre Geschichten vor. ►Alle Interviews im Überblick