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Witwendiskriminierung in Indien: Ächtung bis in den Tod

Die leuchtend-bunten Armreife aus Glas, die zuvor die Handgelenke zierten, wurden ihr zerbrochen. Auch die orangerote Verzierung ihres Haarscheitels sollte die junge Witwe fortan nicht mehr tragen dürfen. Ebenso wenig die Hochzeitskette, die ihr eine Tante abgenommen hatte. Wie es patriarchal-hinduistische Traditionen in Indien fordern, hatte Poonam Solanke die Symbole ihres „gesegneten Ehestatus‘“ ablegen müssen. Mit dem Tod ihres Mannes vor drei Jahren begann für Poonam Solanke und ihre Kinder eine doppelte Leidensgeschichte: die Trauer über den Verlust und die Ausgrenzung aus der Dorfgemeinschaft sowie Schikanen ihrer eigenen Familie.

Poonam Solanke wurde nach dem Tod ihres Mannes diskriminiert – bis sie einen Weg aus ihrem Leiden fand. © Caritas India
Poonam Solanke wurde nach dem Tod ihres Mannes diskriminiert – bis sie einen Weg aus ihrem Leiden fand. © Caritas India

Jede dritte Witwe unternimmt Suizidversuch

Die Geschichte der 23-jährigen Poonam ähnelt denen vieler tausender verwitweter Frauen in Indien. Ihnen wird – nicht nur symbolhaft – mit dem Entfernen der Armreife, ihrer Verzierung am Haaransatz und der Hochzeitskette ihre Selbstbestimmung genommen. Die Ächtung der Witwen endet häufig erst mit dem eigenen Tod: jede dritte Witwe in Indien hat mindestens einen Suizidversuch unternommen. Ein gesellschaftliches Tabu, das größtenteils unter den Teppich gekehrt wird.

„Wehrlos und leichte Beute“

Wenngleich die Praxis der Witwendiskriminierung sich nicht allein auf ländliche Gebiete beschränkt, so häufte sie sich in den letzten Jahren im Hinterland des Bundesstaates Maharashtra. Als vor gut drei Jahren dort eine schlimme Dürre und massenhafte Verschuldung die Kleinbauern und -bäuerinnen in existentielle Nöte trieb, nahmen sich tausende Landwirte das Leben. Und die verwitweten Frauen und alleinerziehenden Mütter mussten fortan allein für sich und ihre Familien sorgen. So auch Usha Tayde, eine 38-jährige Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Ihr Ehemann Premadas hatte keinen Ausweg aus den erdrückenden Schulden gesehen und sich im nahe gelegenen Gemeindehaus erhängt. „Das Leben ist sehr schwierig für eine Witwe, die als wehrlos und leichte Beute angesehen wird. Ich werde regelmäßig belästigt und ausgegrenzt“, beschreibt Usha die Erfahrungen, die sie nach dem Tod ihres Mannes machen musste.

Der lange Arm der patriarchalen Tradition

Auch Poonam Solanke berichtet, wie sich die Fremdbestimmung über den Tod ihres Ehemannes hinaus nicht nur fortsetzte, sondern immer schlimmer wurde. Fortan wurde Poonam in ihrem Dorf und von ihrer Familie als Apashkuni, „böses Omen“, gebrandmarkt und als „schlechter Einfluss“ gemieden. Und ihr wurde sogar die Schuld am Tod ihres Mannes zugeschoben: „Man beschimpfte mich als geisteskranke und charakterlose Frau“, schildert die 23-jährige Witwe den Horror, der sich in ihrem Leben abspielte. Poonams Ehemann Sunil hatte im Jahr 2019 – gequält von Schuldgefühlen, den Lebensunterhalt für die Familie nicht mehr bestreiten zu können – sein Leben beendet, indem er Pestizide trank. Von diesem tragischen Moment an war das Leben „ein großes, beängstigendes Fragezeichen“, wie Poonam berichtet: „Wie werde ich meine Kinder ernähren? Wie werde ich ein Dach über dem Kopf für mich und meine Kinder finden? Wird diese Welt mir erlauben, als Witwe zu leben?“

Wirtschaftliche Eigenständigkeit als Wendepunkt

Im Jahr 2021 – nach großen Entbehrungen und Schwierigkeiten, sich und ihre Familie über Wasser zu halten – kam Poonam mit Samarth in Kontakt. Das Caritas-India-Programm Samarth setzt sich für die ausgestoßenen Witwen ein und hilft ihnen dabei, Kleinbetriebe und Kleinstunternehmen zu gründen, um so aus ihrer wirtschaftlichen und sozialen Notlage herauszukommen. Samarth verschafft ihnen auch Zugang zu staatlichen Hilfsprogrammen. Mindestens 80 Prozent der Projektteilnehmenden sind Witwen, deren Ehemänner aufgrund von Ernteverlusten und Verschuldung Suizid begangen haben.

Das Team half Poonam dabei, den Schock zu überwinden und das Trauma langsam abzulegen: „Ich fing an, hoffnungsvoller auf das Leben zu schauen.“ Und Samarth unterstützte sie auch auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit: Poonam beschloss, eine eigene Schneiderei zu eröffnen – und sich damit einen Kindheitstraum zu erfüllen. Sie erkannte darin auch die Chance, die allgegenwärtige Stigmatisierung hinter sich zu lassen. Samarth half ihr mit einer Anfangsinvestition von umgerechnet 80 Euro, um die Schneiderei zu eröffnen. Voller Stolz gab sie der Schneiderei den Namen ihrer Tochter: Aanchal. Nach einigen Startschwierigkeiten ist das Aanchal Tailoring Centre schon ziemlich etabliert und für Poonam die Haupteinnahmequelle: „Jetzt verdiene ich täglich 250 Rupien (etwa 3 Euro, Anm.). Das reicht für mich und meine Kinder aus, um den Start in ein neues Leben zu wagen“, erzählt Poonam hoffnungsvoll.

Heute leitet Poonam ihre eigene Schneiderei: Mit ihrem Laden Aanchal Tailorin Centre verdient sie genug, um unabhängig zu sein und für sich und ihre Kinder sorgen zu können. © Caritas India
Heute leitet Poonam ihre eigene Schneiderei: Mit ihrem Laden Aanchal Tailorin Centre verdient sie genug, um unabhängig zu sein und für sich und ihre Kinder sorgen zu können. © Caritas India

Neubeginn – auch für die Kinder

Neben der Unterstützung beim Aufbau der Schneiderei, die in den Begrifflichkeiten von Samarth als einkommensschaffende Maßnahme bezeichnet wird, konnte das Team von Samarth Poonam auch beim Zugang zum staatlichen Witwenrentenprogrammen und dem Ausfüllen der komplizierten Formalitäten helfen. Die junge Witwe erhält nun zusätzlich eine monatliche Rente von 1.100 Rupien (etwa 13 Euro). Darüber hatte sie erst vom Samarth-Team erfahren. „Es ist ein gutes Gefühl, unabhängig zu sein. Wirtschaftliche Eigenständigkeit ist für mich als Frau und Witwe sehr wichtig. Ich bin sehr glücklich, dass ich mit meinem eigenen Einkommen für meine Kinder sorgen kann“, sagt Poonam mit einem zufriedenen Lächeln. Das Aanchal Tailoring Centre eröffnete auch den Kindern einen hoffnungsvollen Neubeginn: Beide können seitdem die örtliche Schule besuchen.

Mit Empowerment für strukturelle Veränderungen

Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist ein entscheidendes Mittel, das betroffene Frauen aus der Ächtung herausführen kann. Mindestens genauso wichtig sind Veränderungen auf der politischen Ebene. Doch die müssen meist erst kollektiv erstritten werden. Während es früher gegen die unmenschliche Praxis der Witwendiskriminierung nur selten geschlossenen Widerstand gegeben hatte, regt sich nun immer mehr Protest gegen Stigmatisierung und gesellschaftliche Ächtung. In dem Prozess der Selbstermächtigung erfahren die Witwen Unterstützung durch das Jeevan-Programm. Im Vergleich zu den konkreten und individuellen Hilfestellungen wie bei Samarth stehen bei Jeevan Empowerment-Programme im Vordergrund, die betroffene Gruppen unterstützen, ihre Ohnmacht selbst zu überwinden. Jeevan steht für Ermächtigung oder Empowerment. Diese tatkräftig zu unterstützen, das haben sich die Partnerorganisationen von Caritas India und Misereor auf die gemeinsame Fahne geschrieben. Im Jeevan-Programm werden Frauen auf dem Land dabei unterstützt, sich zu mobilisieren und zu organisieren, indem sie eigene Dorfversammlungen (Gram Sabhas) einfordern und organisieren, in denen es alleinig um ihre Anliegen geht.

Ein Teammitglied von Samarth spricht mit Poonam über die aktuelle Lage. © Caritas India
Ein Teammitglied von Samarth spricht mit Poonam über die aktuelle Lage. © Caritas India

„Keimzellen der Veränderung“

So erheben die Frauen immer häufiger ihre Stimme(n) im politischen Prozess und fordern ihren rechtmäßigen Platz in der indischen Gesellschaft ein. Einen echten Durchbruch erzielten Frauengruppen in den Dörfern Khus Kurd und Nizare im Bezirk Satara, im Hinterland des Bundesstaates Maharashtra. Sie nahmen ihren Mut zusammen, um der Witwendiskriminierung ein Ende zu setzen: Zunächst übten sie gemeinsam Druck auf den Dorfrat aus, eine Versammlung ausschließlich für Frauen einzuberufen. „Anfangs widersetzten sich einige Männer und Frauen unseres Dorfes dem Vorschlag mit der Begründung, dass die Behandlung der Witwen religiös begründet sei und diese Tradition nicht angetastet werden dürfe. Sie setzten uns unter Druck, den Vorschlag zurückzuziehen. Als sie jedoch merkten, dass wir uns einig waren und ausreichend über die rechtlichen Hintergründe informiert waren, ließ ihr Widerstand nach“, beschreibt Shakuntala Bhilare, zweite Dorfrätin in Nizare, die Hindernisse ihrer Kampagne. Nach ihrem Etappensieg konnte auf der Versammlung sogar eine Resolution verabschiedet werden, die Diskriminierung von Witwen verbietet und den Schutz ihrer Rechte fortan gewährleistet. Das kam einer kleinen Revolution gleich. Neben Khus Kurd und Nizare wurden Mithilfe der Resolution auch in den Dörfern Ganje und Kus Budruk all die inhumanen Praktiken verbannt, mit denen Frauen zuvor als Witwen gebrandmarkt und kollektiv ausgegrenzt wurden.

Frauen stellen die Eigentumsfrage

Ein großer Erfolg auch für das Jeevan-Programm, das ebenso wie Samarth gemeinsam von Caritas India und Misereor mit unterstützt wird. In die Resolution nahmen die Frauengruppen auch die Eigentumsfrage auf. „Zusammen mit der Resolution, mit der wir die repressiven Witwenpraktiken unterbinden konnten, brachten wir auch einen Vorschlag ein, mit der wie die Namen von Frauen als Miteigentümer*innen aller Grundstücke aufnehmen konnten. Auch diese Resolution wurde einstimmig angenommen“, freut sich Pushpa Shankar Manve, eine der Vorsitzenden des Dorfrates von Kus Budruk. Frauen sind seitdem gleichberechtigte (Mit-)Eigentümerinnen vom Familienbesitz. Endlich ein stückweit mehr Gleichbehandlung. Und zugleich entscheidene Stellschraube für die Unabhängigkeit von Frauen. Gerade für Witwen ist diese neue Stellung ein wichtiger Schutz davor, in Armut und gesellschaftliches Elend abzurutschen.

In die Resolution nahmen die Frauengruppen auch die Eigentumsfrage auf. Seitdem sind die Frauen gleichberechtigte (Mit-)Eigentümerinnen vom Familienbesitz
In die Resolution nahmen die Frauengruppen auch die Eigentumsfrage auf. Seitdem sind die Frauen gleichberechtigte (Mit-)Eigentümerinnen vom Familienbesitz. © Caritas India

Witwen als Protagonistinnen des Wandels

In den Dörfern Khus Kurd, Nizare, Ganje und Kus Budruk nehmen Witwen wieder an gesellschaftlichen Zeremonien und großen Festen teil. Wer sie ausschließt, muss mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Das gilt ebenso für das Abnehmen der Hochzeitskette wie für das aufgenötigte Zerbrechen der Armreifen sowie das Abwischen der Sindur-Verzierung von der Stirn. Auch auf die gesellschaftliche Konvention, nach dem Tod ihrer Ehemänner ausschließlich weiße Sarees zu tragen, kann sich hier, in der „Keimzelle der Veränderung“ niemand mehr berufen, ohne den Zorn und den Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft zu riskieren. „Dank unserer kollektiven Aktion konnte bereits 65 Frauen in unserem Bezirk das Eigentumsrecht zugesprochen werden. Und zum Tag der Republik am 26. Januar hat in unserem Dorf zum ersten Mal eine Witwe die Flagge gehisst und salutiert“, erzählt Pushpa voller Stolz. Die Zeiten, in denen Witwen gezwungen waren, ein Leben voller Entbehrungen und Opfer zu führen, scheinen endlich dem Ende entgegenzugehen.


Hintergrund

Das Jeevan-Programm , wird inhaltlich betreut und begleitet von Dr Saju M.K., Caritas India. Es mobilisiert und organisiert Witwen und alleinstehende Frauen, um sich gegen die Ausbeutung und Marginalisierung zu wehren. Jeevan hilft ihnen, ihre Stimme zu erheben und ihren rechtmäßigen Platz einzufordern. Frauen auf dem Land werden bestärkt darin, eigene Dorfversammlungen, Gram Sabhas, einzufordern und zu organisieren. Dabei geht es alleinig um ihre Anliegen. Jeevan hat bisher geholfen, mehr als 300 spezielle Gram Sabhas ausschließlich für Frauen zu organisieren. Im Bundesstaat Maharashtra führen mittlerweile 11 Partnerorganisationen Jeevan-Programme durch. Einer dieser Partner ist JVS Amravati, der das Programm in der östlichen Vidharba-Region durchführt:

Samarth unterstützt Witwen bei der Gründung von Kleinbetrieben und Kleinstunternehmen, mit denen sie ihre wirtschaftliche und soziale Notlage überwinden. Mindestens 80 % der Projektteilnehmenden sind Witwen, deren Ehemänner aufgrund von Ernteverlusten und Verschuldung Suizid begangen haben. Samarth verschafft ihnen auch Zugang zu staatlichen Hilfsprogrammen. Samarth und Jeevan werden beide von Misereor unterstützt.


Autoren

Dr. Saju M.K. leitet das Western Zone Programme von Caritas India (Delhi) und ist hauptverantwortlich für die Durchführung der Jeevan-Programme. Diese werden von Misereor und Caritas India gemeinsam unterstützt.

Thomas Stauber ist freier Autor. Er lebt und arbeitet in Indien.


Dank der Arbeit der Kinderrechtsorganisation Butterflies finden die Kinder neuen Halt im Leben und eine echte Chance auf einen Neuanfang. - © Fahlbusch/ Misereor

Spendenprojekt des Monats: Indien

Erfahren Sie mehr über unser Spendenprojekt des Monats: Indien.


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Gast-Autorinnen und -Autoren im Misereor-Blog.

1 Kommentar Schreibe einen Kommentar

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    Danke für den interessanten Artikel. Das mit der Witwendiskriminierung habe ich nicht gewusst. Hier muss natürlich in der Tag etwas dagegen gemacht werden.

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