Die Vielfalt Brasiliens drückt sich nicht nur in seinem Artenreichtum aus, sondern auch in den diversen traditionellen Gemeinschaften. Dazu gehören ca. 897.000 Indigene in 305 Völkergruppen. Diese Menschen sind weiterhin unzähligen Gewalttaten ausgesetzt. Hinter diesen Vorfällen stecken vielfach wirtschaftliche Interessen.
Nicht nur anlässlich des heutigen internationalen Tags der indigenen Völker rückt Brasilien ins Interesse der Öffentlichkeit. Vor allem unter der früheren Regierung von Präsident Jair Bolsonaro wurde weltweit mit Besorgnis auf die Abholzung des Regenwaldes und die einhergehende Zerstörung der Lebenswelt indigener Bevölkerungsgruppen geblickt. Denn Bolsonaros Präsidentschaft stand für den systematischen Abbau von Schutzmaßnahmen für die indigenen Völker Brasiliens und deren Eigentum. Dies bestätigt auch der Jahresbericht für 2022 „Gewalt gegen indigene Völker in Brasilien“ von der Fachstelle für indigene Fragen CIMI, einer Partnerorganisation von Misereor. Der Bericht dokumentiert die enormen Schäden, Invasionen und Konflikte in den indigenen Territorien. So wurden 1.334 Fälle von Gewalt gegen das Eigentum indigener Völker registriert, darunter die illegale Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch Abholzung, Bergbau und Goldsuche. Auch die direkte Gewaltanwendung gegen indigene Personen ist mit 416 Fällen nicht zurückgegangen. So sind die Indigenen in hohem Maße von Machtmissbrauch, Drohungen, ethnisch-kultureller Diskriminierung und Tötungsdelikten betroffen.
Grenzen zum Schutz indigener Territorien
Die Gewalttaten werden durch fehlende Schutzmaßnahmen begünstigt. So wäre vor allem eine juristisch verbindliche Grenzziehung zum traditionell von Indigenen bewohnten Land notwendig. Die sogenannte Demarkation würde den betroffenen Völkergruppen eine rechtliche Absicherung bieten. Bereits 1988 wurde in der brasilianischen Verfassung festgelegt, dass alle indigenen Gebiete demarkiert werden sollen. „Heute, über 30 Jahre später, fällt die Bilanz sehr enttäuschend aus, vergegenwärtigt man sich die Prozentzahl von 62 indigenen Gebieten, die immer noch nicht den Demarkationsstatus innehaben“, folgert Haroldo Heleno, Koordinator der Regionalstelle Ost von CIMI. Insbesondere in Zeiten, in denen das auf Rohstoffgewinnung und -export ausgelegte Wirtschaftsmodell Brasiliens eine immer größere Bedrohung für indigene Gemeinschaften darstelle. Ein direkter Zusammenhang des Anbaus von Zuckerrohr und Soja mit Entwaldung und Landkonflikten konnte mehrfach dokumentiert werden, so Heleno.
Die Rolle internationaler Handelsabkommen
Die Zustände könnten sich verschlechtern: Das von der deutschen Regierung angestrebte EU-Mercosur-Abkommen verstärkt nach Ansicht der Misereor-Brasilienreferentin Madalena Ramos Görne diese Missstände. Das Freihandelsabkommen erleichtert und steigert demnach den Import von Agrarprodukten und metallischen Rohstoffen aus den Mercosur-Staaten in die EU. Somit würden die indigenen Gebiete Brasiliens zunehmend im Zentrum wirtschaftlicher Interesse stehen. „Das Abkommen steht für die Zementierung der bereits bestehenden ‘neokolonialen Arbeitsteilung‘ innerhalb unseres globalen Wirtschaftssystems und für Brasiliens Rolle als Rohstofflieferant in dieser Ordnung“, so Ramos Görne. Diese Rolle wird von dem seit Januar 2023 amtierenden Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva hinterfragt. Seine Regierung setzte bereits deutliche Signale in Richtung von mehr Schutz indigener Bevölkerungsgruppen. Dafür steht exemplarisch die Einführung des Ministeriums für indigene Völker. Allerdings stellen Gegner*innen dieser Pläne sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat die Mehrheit dar und gefährden die Bemühungen der Regierung.
Lieferketten beeinflussen die Situation Indigener
Die deutsche Bundesregierung könne einen Beitrag zur Verbesserung der Situation indigener Bevölkerungsgruppen leisten, so Ramos Görne. Bei den anstehenden Regierungsverhandlungen im Herbst könne sie die Notwendigkeit der Ratifizierung des sogenannten Escazú-Abkommens durch Brasilien bekräftigen. Das Abkommen steht für die Förderung umweltgerechter Praktiken in den Lieferketten und der Rohstoffproduktion. Der Bergbau und die Agrarindustrie tragen laut Ramos Görne in Brasilien in hohem Maße zur Zerstörung der biologischen Vielfalt bei. Infolgedessen verlieren viele indigene Gemeinschaften ihre Lebensgrundlagen. Deutschland kann nach Ansicht von Misereor Einfluss auf die Europäische Kommission ausüben und sich für den Erhalt indigener Kultur und Wirtschaftsweisen einsetzen. „Nicht zuletzt bedarf es aber auch eines grundsätzlichen Umdenkens in der deutschen und europäischen Handelspolitik, die nach wie vor zu stark auf den Wohlstand im globalen Norden auf Kosten vulnerabler Bevölkerungsgruppen im Süden ausgerichtet ist“, schlussfolgert die Brasilien-Expertin.
Indigene Praktiken schützen
Nicht nur die Lebensräume und das Leben indigener Völker in Brasilien sind gefährdet – Indigene Bevölkerungsgruppen auf der ganzen Welt sind betroffen. Global mangele es noch stark an Anerkennung für den Beitrag, den Indigene für den Umweltschutz leisten. Außerdem stellen ihre landwirtschaftlichen, auf Nachhaltigkeit angelegten Praktiken ein wichtiges Gegengewicht zum exportorientierten Agrobusiness dar. „Die Wertschätzung Indigener darf sich nicht nur auf schöne Wörter am internationalen Tag der indigenen Völker beschränken, sondern muss ernstgemeinte Bemühungen effektiven Schutzes beinhalten“ betont Ramos Görne.