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Der „Afiuni-Effekt“

Ein Besuch bei der Menschenrechtspreisträgerin des Deutschen Richterbundes, Maria Lourdes Afiuni – in Venezuela.

Spricht man in Venezuela von einer Richterin, die zu Unrecht verhaftet, misshandelt und zu einer jahrelangen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, wissen alle sofort, von wem die Rede ist: Maria Lourdes Afiuni. Die ehemalige Richterin hatte 2009 die Haftentlassung unter Auflagen eines in Untersuchungshaft sitzenden venezolanischen Unternehmers veranlasst. Der Mann saß zu diesem Zeitpunkt schon drei Jahre in Haft. Somit war die in Venezuela maximal zulässige Untersuchungshaft von zwei Jahren bereits deutlich überschritten. Maria Lourdes Afiuni hatte laut der venezolanischen Verfassung Recht gesprochen – nicht mehr und nicht weniger.

Richterin Maria Lourdes Afiuni (links) mit Susanne Breuer, Referentin aus dem Misereor-Büro Berlin, gemeinsam in Caracas/Venezuela. © Misereor

Daraufhin wurde ihr ganzes bisheriges Leben auf den Kopf gestellt und zerstört. Maria Lourdes Afiuni wurde laut eigener Aussage nur fünfzehn Minuten nachdem sie die Freilassung des Unternehmers angeordnet hatte von der politischen Polizei verhaftet, eine Verteidigung wurde ihr nicht zugestanden. Präsident Chávez persönlich habe öffentlich ihre Verhaftung begrüßt, um ein Exempel zu statuieren – in einer Fernsehansprache verlangte er sogar 30 Jahre Haft. Derartige willkürliche Verurteilungen sind leider kein Einzelfall in Venezuela. Anfang August beispielsweise wurden sechs Gewerkschaftsvertreter zu 16 Jahren (!) Haft verurteilt.

Auf die allen rechtsstaatlichen Prinzipien widersprechende Verhaftung hin folgte ein Martyrium: Misshandlungen. Drohungen. Berufsverbot. Verbot, Medien zu nutzen. Inhaftierung zunächst in einem Frauengefängnis, dann Entlassung in den Hausarrest wegen einer schweren Erkrankung. Schließlich 2019 die Verurteilung zu fünf Jahren Haft mit dem Vorwurf der Korruption, krimineller Machenschaften, Unterstützung zur Flucht und Machtmissbrauch. Alles haltlose Vorwürfe ohne jegliche Beweise. Drei unabhängige Expert*innen der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Verhaftungen verlangten bereits 2009 ihre sofortige Freilassung.  Bis heute darf sie das Land nicht verlassen. Und konnte so auch die Auszeichnung mit dem Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes 2023 in Weimar nicht persönlich entgegennehmen.

Eine sympathische und starke Frau

Bei meinem Treffen mit Maria Lourdes Afiuni in Caracas bringt sie ihre Mutter mit. Maria Lourdes ist eine sympathische, starke Frau. Die gegen sie verhängten strafrechtlichen Maßnahmen, ihre Krankheit und das Berufsverbot haben sie dennoch gezeichnet. Sie lässt sich jedoch nicht unterkriegen. Sie berichtet davon, dass sie und ihre Familie neben dem persönlich erlittenen Unrecht auch unter der Wirtschaftskrise im Land leiden – ihre Ersparnisse hat sie für die Unterstützung ihrer Eltern aufgebraucht. Der Versuch, ihr Haus zu verkaufen, sei bisher nicht gelungen. Sie habe auch keine Möglichkeiten, als Anwältin zu arbeiten. Sobald jemand ihren in Venezuela ungewöhnlichen Namen höre, nehme man Abstand von einer Kooperation oder Beauftragung – aus Angst. Ihr Name wie auch der ihrer Familienangehörigen sei „verbrannt“ in Venezuela. Ihre beiden Kinder seien im Exil – ihre in den USA geborene Enkeltochter hat sie noch nie persönlich kennengelernt.

Man spreche in Venezuela von dem „Efecto Afiuni“ – dem „Afiuni-Effekt“: Neben den Auswirkungen für ihre Familie traue sich nun auch kein weiterer Richter, keine weitere Richterin mehr, ein Urteil zu sprechen, ohne sich dieses von ganz oben absegnen zu lassen. Ihr Schicksal ist eine Warnung an alle, die sich möglicherweise noch für eine unabhängige Justiz einsetzen wollen. An alle Richter*innen, die einfach nur ihre Arbeit gemäß der venezolanischen Verfassung ausführen wollen. Maria Lourdes Afiuni hat genau dies getan – dafür wurde ihr Leben zerstört.

Die derzeit einzige und beste Unterstützung ist internationale Aufmerksamkeit

Maria Lourdes Afiuni war sehr überrascht von der Auszeichnung aus Deutschland – und dass ihr Schicksal so weit entfernt von ihrem Land wahrgenommen und gewürdigt wird. Dies bewegt sie zutiefst.

Die jahrelange vertrauensvolle Kooperation zwischen Misereor und dem DRB zur Unterstützung von Opfern aus dem Justizwesen in Kolumbien war der Anlass anzubieten, auf meiner Dienstreise nach Venezuela ein kleines Geschenk des Deutschen Richterbundes für Maria Lourdes Afiuni mitzunehmen. Es war mir eine große Freude, ihr die mitgebrachte Medaille und eine Grußkarte in der Deutschen Botschaft zu überreichen.

Auf die Frage, wie man sie in ihrer Situation unterstützen könne, antwortete sie, die derzeit einzige und beste Unterstützung sei internationale Aufmerksamkeit. Und: Das erste Land, das sie besuchen wolle, wenn sie jemals wieder reisen dürfe, sei Deutschland.

Misereor setzt sich gemeinsam mit Menschenrechtsorganisationen in Lateinamerika für Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz, gegen Straflosigkeit und für Handlungsspielraum von Menschenrechtsverteidiger*innen sowie für deren Schutz ein.

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Susanne Breuer ist Referentin für Lateinamerika und Ernährung.

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