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Erdbeben in Afghanistan – Eine Katastrophe im Schatten anderer Krisen

Die Erde in der Provinz Herat bebte mit einer Stärke von bis zu 6,3. In der Region an der Grenze zum Iran und Turkmenistan haben unzählige Menschen ihr Zuhause verloren. Die Region liegt in Trümmern, 12.000 Menschen sind auf Katastrophenhilfe angewiesen. Nach Angaben der UN wurden über 2.500 Todesopfer gezählt. Misereors Afghanistan-Expertin Anna Dirksmeier ist im permanenten Austausch mit verschiedenen Partnerorganisationen vor Ort. Im Interview schildert sie die massiven Herausforderungen der Katastrophenhilfe, die bei den Menschen ankommen soll.

Das Erdbeben in der afghanischen Region Herat zerstörte viele Gebäude und Existenzen. © JRS

Wie ist die aktuelle Lage in Afghanistan?

Afghanistan ist in einer extrem schwierigen Lage, nicht nur wegen des Erdbebens, sondern auch weil der Winter naht. Minusgrade, nicht selten im zweistelligen Bereich, werden erwartet. Die Bevölkerung hat keine Nahrungsreserven mehr. In den vergangenen Jahren war das Land immer wieder von Naturkatastrophen betroffen. Mehrere Dürren und Überschwemmungen haben zu Ernteverlusten geführt. Die Menschen sind größtenteils unterernährt. Nach den Zahlen der UN sind von den 40 Millionen Einwohnern 28 Millionen auf humanitäre Hilfe angewiesen, und 15 Millionen Menschen hungern. Aber nicht nur die physischen Reserven sind aufgebraucht, sondern auch die psychischen. Zahlreiche Menschen leiden seelisch sehr stark unter dem Regime der Taliban.

Wie beeinflusst das Regime der Taliban die Verteilung der Hilfsgelder, die das Land benötigt?

Wenn die De-facto-Regierung der Taliban nicht die Herrschaft übernommen hätte, wäre das Land weniger notleidend, weil mehr ausländische Unterstützung von der internationalen Staatengemeinschaft zu erwarten gewesen wäre. Staatliche Nothilfe fließt in der Regel von Regierung zu Regierung, doch klar ist, dass das Regime der Taliban nicht gestützt werden darf. Deshalb läuft die Unterstützung der Bundesregierung und anderer Geberländer über die Vereinten Nationen und ihren Beitrag am Welternährungsprogramm. Das ist deutlich weniger als benötigt! Die Taliban werden international nicht als legitime Regierung anerkannt, sanktioniert und boykottiert, so auch das Bankensystem. Daher können über diesen Weg keine Mittel ins Land fließen. Das behindert auch die Hilfswerke, die wie Misereor nicht mit Regierungen, sondern mit lokalen Vereinen zusammenarbeiten. Der Boykott hat nicht zu Zugeständnissen der Taliban geführt, sondern trifft vor allem die Bevölkerung. Misereor achtet bei seinen Hilfen sehr darauf, dass diese die Not leidende Bevölkerung direkt erreicht und nicht Teile von den Taliban abgefangen werden.

Die Türe führte zu einem Zuhause. Nun ist sie ein Überrest des Erdbebens. © JRS

Wird die Aufmerksamkeit und Nothilfe für Afghanistan durch gleichzeitig stattfindende Krisen stark eingeschränkt?

Auf jeden Fall, leider. Das war auch so, als der Ukraine-Krieg ausgebrochen ist. Es gab deutlich weniger Aufmerksamkeit für arme Länder. Der Ukraine-Krieg hat noch heute Auswirkungen auf die Ärmsten der Armen, weil er durch gestiegene Preise für Rohöl und Weizen die Inflation in vielen Ländern angeheizt hat. Zudem stehen international bei zunehmenden Krisen finanziell weniger Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung.

Bereits in der Vergangenheit ist es so gewesen, dass Krisen und Katastrophen miteinander „konkurrierten“. Allerdings müssen wir uns darauf einstellen, dass die Zahl der Katastrophen steigt. Wir sehen bereits jetzt schon die weltweiten Klimakatastrophen. Starke Regenfälle, Überschwemmungen und Dürren werden weiter zunehmen. Deutschland hat, wie alle Industrieländer, eine große Verantwortung, nicht noch weiter zur Erwärmung der Erdatmosphäre beizutragen.

Die Zahlen der UN bestätigen, dass vor allem Kinder und Frauen von den Folgen des Erdbebens betroffen sind. Warum sind sie besonders gefährdet?

Das liegt daran, dass das Taliban-Regime die Frauen und Mädchen praktisch aufs Haus verweist. Die einstürzenden Häuser haben deshalb vor allem Frauen und Kinder unter sich begraben. Die restriktive Politik gegenüber Frauen ist eine große Menschenrechtsverletzung. Diese muss immer wieder international angeprangert werden. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Taliban offiziell Zugeständnisse machen, aber trotzdem haben einige unserer Partner doch noch etwas Hoffnung. Die Taliban sind kein monolithischer Block und einige sind moderater als andere. Der Rote Halbmond, Schwestergesellschaft des Deutschen Roten Kreuzes in Afghanistan, hat unter Duldung der Taliban Ärztinnen und medizinische Helferinnen dazu aufgerufen, in dem Erdbebengebiet zu helfen. Das heißt, die Taliban haben realisiert, dass sie die Opfer ohne weibliches Personal nicht behandeln können und merken, dass es ohne Frauen nicht geht.

Wir müssen bei der Projektarbeit immer wieder prüfen, wo wir noch unterstützen können. Wenn unsere lokalen Partnerorganisationen in ihrer Region von den dort herrschenden Taliban an der Arbeit gehindert werden, müssen sie den Wirkungsort wechseln. Unsere Projektpartner haben klar gesagt, dass sie die Arbeit in dem Land einstellen, wenn nur noch Hilfe für Männer möglich wäre.  Entwicklungszusammenarbeit ohne Frauen wäre auch mit den Werten von Misereor nicht zu vereinbaren.

Unzählige Menschen haben ihr Zuhause verloren. Der anstehende Winter verschlimmert die Lage. © JRS

Wie schwer gestaltet sich nun der Wiederaufbau bei den mangelnden Hilfeleistungen?

Der Wiederaufbau wird dauern, ist aber nicht so problematisch, weil die Häuser aus Lehm bestehen und diese normalerweise in Eigenleistung mit Mitteln vor Ort gebaut werden. Es hätte wahrscheinlich deutlich mehr Todesopfer gegeben, wenn es stattdessen feste Steinhäuser gewesen wären. Den Menschen fehlt es gerade dringend an Zelten, Decken, warmer Kleidung medizinischer Versorgung und Nahrungsmittelhilfe. Man darf sie in ihrer Not nicht allein lassen. Über die akute Hilfe hinaus fehlt es an allgemeiner Unterstützung für das Land. 92 Prozent der Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Nun kommen noch Tausende von geflüchteten Afghan*innen hinzu, die im Nachbarland Pakistan Zuflucht gesucht hatten und nun von dort vertrieben werden. Dies betrifft 1,7 Millionen Menschen. Sie kommen als Vertriebene mit leeren Händen und müssen sich eine Existenz aufbauen, obwohl es dazu kaum Möglichkeiten gibt.

Was ist die Forderung an die deutsche Politik, um Afghanistan krisenfester zu machen?

Zunächst einmal muss innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft der Druck auf die pakistanische Regierung erhöht werden, die Vertreibungen zu stoppen. Gleichzeitig muss mit Hochdruck daran gearbeitet werden, die gefährdeten Afghan*innen, die bereits eine Zusage durch das Bundesaufnahmeprogramm erhalten haben, schleunigst außer Landes zu holen. Denn in Afghanistan wurden sie von den Taliban als ehemalige Unterstützer der früheren Regierung dort sowie der NATO und als Mitarbeitende in staatlichen Entwicklungsprojekten als „Kollaborateure“ verfolgt. Ihr Leben ist in Gefahr. Die Flüchtlingslager an der Grenze wachsen. Auch hier ist dringend Nothilfe erforderlich. Neben humanitären Projekten müssen auch längerfristige Aufbauprojekte in Afghanistan wieder aufgenommen werden, um die Menschen nachhaltig in ihrer Entwicklung zu unterstützen und sie nicht zu Almosen-Empfängern zu degradieren.

Misereor ist es wichtig zu betonen, dass man Veränderungen nur erreichen kann, wenn man – so weit möglich – die Partnerorganisationen weiterhin in ihrer Arbeit unterstützt, auch aus friedenspolitischen Aspekten heraus. Die Unterstützung muss langfristig zum Ziel haben, den Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft, insbesondere der Frauen, wieder schrittweise zu erweitern.


Hintergrund

Die afghanische Bevölkerung steht angesichts existenzieller Krisen vor einer humanitären Katastrophe. Ein Großteil der Bevölkerung leidet unter Hunger. Verschärft hat sich die Situation vor allem nach der erneuten Machtübernahme der Taliban. Nach 20 Jahren konnten die radikalen Islamisten im August 2021 wieder die Regierung stellen, nachdem internationale Truppen aus dem Land abgezogen worden waren. Bereits von 1996 bis 2001 regierte das Terror-Regime das politisch geschwächte Land.

Die Taliban zwingen die Bevölkerung, ihrer Auslegung des Islam zu folgen. Diese schränkt insbesondere das Leben der Mädchen und Frauen ein. Sie dürfen keine weiterführenden Schulen besuchen, keinen Beruf ausüben, haben keinen Zugang zu Medien und dürfen ihre Wohnung nicht ohne einen Mann verlassen. Zivilgesellschaftliche oder politische Teilhabe wird ihnen verwehrt. Aufgrund schwerer Menschenrechtsverletzungen wird die Regierung der Taliban international nicht anerkannt. Handelsbeziehungen wurden gekippt, strukturelle Entwicklungsprogramme wurden eingestellt und auf Nothilfe über die Vereinten Nationen (UN) begrenzt, die bei Weitem nicht ausreicht. Misereor unterstützt seit mehr als 50 Jahren Partnerorganisationen in Afghanistan. Aktuell fördert das Hilfswerk dort zwölf Projekte in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Existenzsicherung mit mehr als sieben Millionen Euro. Obwohl die Taliban die Arbeit der Partnerorganisationen von Misereor massiv einschränken, tun letztere alles Mögliche, um bedürftige Menschen, vor allem die Frauen, zu unterstützen.


Spendenaufruf: Afghanistan

Tausende Menschen starben, verloren ihr Zuhause oder Angehörige. Die Misereor-Partnerorganisationen versorgen die Menschen mit den nötigsten Gütern und versuchen, sie bestmöglich zu unterstützen.


Geschrieben von:

Portrait einer Mitarbeiterin

Charleen Kovac ist Presse-Volontärin bei Misereor.

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