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Eine Welt ohne Müll – Cradle to Cradle

Diese Zahl ist kaum zu fassen: Aktuell befinden sich in den Ozeanen dieser Welt etwa 640.000 Tonnen aufgegebene Fischernetze. Achtlos entsorgt. Und eine Belastung für die Meeresökologie. Denn die Netze bestehen aus Kunstfaser und zersetzen sich oft erst Jahrhunderte später. Sie machen zehn Prozent des gesamten globalen Mülls im Meer aus.Eine Welt ohne Müll - Cradle to Cradle

Wenn Michael Stein, Geschäftsleiter Deutschland des belgisch-niederländischen Unternehmens Desso, die in seiner Firma hergestellten Teppichfliesen präsentiert, kann es durchaus sein, dass in diesen Produkten Bestandteile aus ehemaligen Fischernetzen enthalten sind. Das im Meer aufgelesene Material kann nämlich als hochwertiges Nylongarn wiederverwertet werden. Schaut man sich daraufhin die Unternehmensphilosophie von Desso an, stellt man fest, dass hinter der Nutzung von recycelten Fischer-Utensilien mehr steckt, als nur eine individuelle Öko-Idee. Die Netze gelten als kleines Puzzleteilchen eines ganzheitlichen, alle Produktionsbereiche umfassenden Ansatzes, der für die nächsten Jahre ein ambitioniertes Ziel hat: Die gesamte Produktpalette soll bis 2020 auf eine hundertprozentige Kreislaufwirtschaft umgestellt werden. Nichts soll weggeworfen, alles wiederverwertet werden. „Cradle to Cradle“ nennt die Fachwelt diesen Ansatz – von der Wiege zur Wiege. Abfall wird – biologisch und technologisch gesehen – als Nahrung eingestuft. Desso ist mit dem Prinzip längst nicht mehr allein auf weiter Flur. Auch der Sportartikel-Gigant Puma oder der Textilhersteller Trigema haben in einzelnen Produktlinien bereits das umfassende Recycling-Konzept umgesetzt, etwa mit T-Shirts, die komplett kompostierbar sind. Oder Sportschuhen mit Obermaterial aus Biobaumwolle und einer Sohle aus biologisch abbaubarem Kunststoff. Dem Traum von einer Welt ohne Abfall kommt man auf diese Weise ein ganzes Stück näher.

Michael Stein - Geschäftsleiter Deutschland bei DESSO

Michael Stein – Geschäftsleiter Deutschland bei DESSO © Andreas Schmitter


„Auf lange Sicht wird unsere Produktionsweise besonders profitabel sein, und die zunehmende Ressourcenknappheit wird uns deutlich weniger beeinflussen. Zudem werden wir den hohen Maßstäben gerecht, die wir uns für den verantwortlichen Umgang mit der Umwelt gesetzt haben.“

Michael Stein, Geschäftsleiter Desso Deutschland

KONSEQUENTE KREISLAUFWIRTSCHAFT

Und es ist erstaunlich, welche Kreativität der „Cradle to Cradle“-Ansatz freisetzt: So hat die Entwicklungsabteilungvon Desso zusammen mit der Reststoffunie, einer Vereinigung von Trinkwasserunternehmen in den Niederlanden, eine Möglichkeit gefunden, aufbereitetes Kalziumkarbonat, also Kreide, in einem Upcycling-Prozess weiterzuverarbeiten. Mit der Kreide kann der Rücken einer Teppichfliese hergestellt werden. Die Wasserversorger hätten sie ansonsten entsorgen müssen. „Mehr als 99 Prozent unserer Abfälle werden nun recycelt“, freut sich zum Beispiel Ria Doedel, Vorstandsvorsitzende des Unternehmens Water Maatschappij aus der grenznahen niederländischen Provinz Limburg. Desso erwartet, dass gemeinsam mit den niederländischen Wasserversorgern bis zu 20.000 Tonnen an Kreide für die Produktion seiner Teppichfliesen verwendet werden. Langsam aber sicher entstehen so neue ökonomische Allianzen und Wirtschaftszweige, die die konsequente Kreislaufwirtschaft zum Nachhaltigkeits-Trend entwickeln könnten – wenn denn die bereits realisierten Beispiele weiter Schule machen. Schauen wir deshalb noch einmal auf die neue Verwertung alter Fischernetze, die übrigens von Tauchern der Organisation „Healthy Seas“ aus den Weltmeeren geholt werden – seit 2013 immerhin bereits mehr als 50.000 Kilogramm. Das unter anderem aus den Netzen gewonnene sogenannte Econyl-Garn bezieht Desso von einer italienischen Firma namens Aquafil mit Sitz in Arco am Gardasee. Bei dieser kann der Grundrohstoff durch chemisches Recycling immer wieder neu gewonnen, der Stoffkreislauf immer wieder neu geschlossen werden. Dem Laien stellt sich da die Frage, ob irgendwann nicht auch das ständige Recyceln am Ende ist. Kann es passieren, dass Materialien so oft genutzt oder eben auch verschlissen wurden, dass sie wirklich nicht mehr zu gebrauchen sind? „Nein“, sagt Michael Stein, „das geht immer so weiter.“ Schöne Aussichten.

STEIGERUNG DER UMSÄTZE UND MARKTANTEILE

Desso war bis zum Jahr 2008 ein Teppichhersteller mit herkömmlichen Produktionsmethoden. Dann aber lernte Stef Kranendijk, damaliger Vorstandschef des Unternehmens, den deutschen Verfahrenstechniker und Chemiker Michael Braungart kennen, der das Cradle-to-Cradle-Prinzip zusammen mit dem US-amerikanischen Architekten und Designer William A. McDonough entwickelt hat. Kranendijk war von dem Konzept der umfassenden Kreislaufwirtschaft so angetan, dass er seinem eigenen Unternehmen nahelegte, sich entsprechend umzustellen. Gesagt, getan. Und der Erfolg gibt der Firma recht. Sie machte seitdem höhere Umsätze und steigerte ihre Marktanteile. Trotzdem gehört zu dem Sinneswandel auch eine Menge Mut. Schließlich musste und muss bei einer solch grundlegenden Umstellung erst einmal kräftig investiert werden. „Der Weg zu 100 Prozent‚Cradle to Cradle‘ ist nicht leicht umzusetzen, und man benötigt eine langfristige Vision“, sagt Roland Jonkhoff, Geschäftsführer von Desso. „Unserer Überzeugung nach ist es jedoch unumgänglich, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die uns von der nicht nachhaltigen, linearen Wirtschaft mit dem Grundsatz ‚Nehmen, Machen und Wegwerfen‘ hin zu einer kreisförmigen Wirtschaft führen mit Produkten, die entweder biologisch abbaubar oder vollständig recyclingfähig sind und so als Rohstoff für neue Güter dienen.“ Wer sich in den Fabrikhallen von Desso im niederländischen Waalwijk umschaut, kann gut erkennen, wie die alte Produktionsweise von der neuen, nachhaltigen langsam abgelöst wird. Unter Leitung von Marco van Bergen, der die Recycling-Prozesse im Werk steuert, werden hier gebrauchte Teppichböden zurückgenommen – sofern sie kein PVC enthalten. Technischer Kreislauf einer TeppichflieseAnschließend werden das Garn und andere Fasern von der Rückenbeschichtung der Fliesen getrennt. Das Garn wird dann zum Recycling an Aquafil weitergeleitet, und aus der Mehrzahl der Fliesenrücken werden große Mengen Bitumen entnommen. Das unter anderem aus Erdöl gewonnene Material wird an die Straßenbauindustrie verkauft oder als Grund- und Brennstoff in der Zementindustrie eingesetzt. Bitumen ist in der Rückenbeschichtung von Teppichböden derzeit – noch – das gängigste Material. Bei Desso hat jedoch längst ein neues Zeitalter begonnen. Statt aus Bitumen werden die neuen Teppichrücken mit einem deutlich umweltfreundlicheren und wiederverwendbarem Material, bestehend aus Kohlenwasserstoff-Polymeren und Kreide, beschichtet, das zu 100 Prozent im eigenen Herstellungsprozess wieder recycelt werden kann. EcoBase nennt sich diese neue Art der Rückenbeschichtung, bei deren Entwicklung bereits die leichte Zerlegbarkeit für das Recycling Priorität hatte. Irgendwann soll EcoBase die Bitumenvariante komplett abgelöst haben, ein geschlossener Material-Kreislauf ohne Abfall und Ressourcen-Vernichtung ist dann Realität.


„Der Weg zu 100 Prozent ‚Cradle to Cradle‘ ist nicht leicht umzusetzen, und man benötigt eine langfristige Vision. Es ist es jedoch unumgänglich, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, die uns von der nicht nachhaltigen, linearen Wirtschaft mit dem Grundsatz ‚Nehmen, Machen und Wegwerfen‘ hin zu einer kreisförmigen Wirtschaft führen mit Produkten, die entweder biologisch abbaubar oder vollständig recyclingfähig sind und so als Rohstoff für neue Güter dienen.“

Roland Jonkhoff, Geschäftsführer von Desso

BEGINN EINES NEUEN ZEITALTERS

Das Interessante an Cradle to Cradle ist die Radikalität, mit der Nachhaltigkeitsprinzipien umgesetzt werden. Am Ende soll nicht nur alles ohne Ausnahme in den Stoffkreislauf zurückwandern, es soll auch nach höchstmöglichen ökologischen Kriterien und mit erneuerbaren Energien produziert werden. „Dabei wurde beispielsweise unser CO2-Ausstoß zwischen 2007 und 2014 um 55 Prozent vermindert“, sagt Stein. Der Gesundheitsverträglichkeit aller Produkte gilt ebenfalls besondere Aufmerksamkeit, insbesondere bei einer Fliesenserie, die mit ihren technologischen Eigenschaften einen Beitrag dazu leisten soll, die Feinstaubkonzentration in der Raumluft deutlich zu reduzieren. Hinzu kommt ein besonders hoher Effizienzstandard: Desso verweist auf jüngste Forschungsergebnisse, nach denen die Kreislaufwirtschaft durch eine intelligentere Nutzung von Materialströmen weltweit Kosten in Höhe von insgesamt einer Billion Dollar pro Jahr einsparen könnte. Michael Stein stellt fest: „Auf lange Sicht wird unsere Produktionsweise besonders profitabel sein, und die zunehmende Ressourcenknappheit wird uns deutlich weniger beeinflussen. Zudem werden wir den hohen Maßstäben gerecht, die wir uns für den verantwortlichen Umgang mit der Umwelt gesetzt haben.“ Das unterscheidet Desso von vielen anderen Industrieunternehmen, die lediglich Energieverbrauch und Rohstoffeinsatz reduzieren, aber den Einstieg in die vollständige Kreislaufwirtschaft nicht vollziehen.


Michael Stein, Geschäftsleiter Deutschland bei DESSO, referierte beim MISEREOR-Unternehmerforum 2015 in Bonn zum Prinzip „Cradle to cradle“ am Beispiel der Firma DESSO. Das Unternehmer-Forum wurde 2012 durch den früheren  Hauptgeschäftsführer von MISEREOR, Josef Sayer, und dem Chef des Reiseunternehmens Phoenix-Reisen, Johannes Zurnieden, ins Leben gerufen. Ziel des Zusammenschlusses von Unternehmerinnen und Unternehmern verschiedenster Branchen ist die Diskussion von Fragen der sozialen Unternehmensverantwortung, die sich aus der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit und den Erfahrungen von MISEREOR ergeben. Gemeinsam werden die Ursachen von Armut, Ungerechtigkeit und Menschenrechtsverletzungen in den Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas aus der Perspektive von Unternehmen analysiert und bewertet.

Das nächste MISEREOR-Unternehmerforum findet am 15. April 2016 in Bonn statt. Sie sind Unternehmer und haben Interesse teilzunehmen? Dann melden Sie sich bei uns!

 

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Ralph Allgaier arbeitet als Pressesprecher bei Misereor.

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