In Pakistan unterwegs mit MISEREOR-Partnern: Hermann Rupp kehrte am 31.August zurück und schildert seine Eindrücke von den Zerstörungen und Hilfeleistungen im Swat-Tal.
Besuch des Swat-Tals
Von Islamabad aus fahren wir gut 100 Kilometern auf der Autobahn nach Nordenwesten. Nach weiteren 1 ½ Stunden auf der Landstraße erreichen wir das untere Ende des Swat-Tals. Wunderschön ist es hier. Über kurvige Straßen und Serpentinen gelangen wir immer tiefer in die Berge. Noch weist nichts auf eine Katastrophe hin. Nur die vielen Militärposten lassen erahnen, was sich vor gut einem Jahr hier ereignet hat. Anfang Mai 2009 flohen Hunderttausende vor der Militäroffensive gegen die Taliban aus dem Swat Tal. Noch immer ist das Leben nicht vollends zur Normalität zurückgekehrt.
Früher einmal war die Region ein beliebtes Urlaubsziel. Davon zeugen die vielen Hotels, die heute allerdings, wie ich erfahre, überwiegend als Unterkunft für die vielen Militärs genutzt werden. Die Militärpräsenz zeigt sich beispielsweise an den vielen Kontrollposten entlang der Straße. Auch wir müssen uns immer wieder ausweisen und erklären, warum wir unterwegs sind. Mit der Genehmigung, die wir beim ersten Militärposten erhalten haben, stellt das allerdings kein Problem dar. Die Menschen sind uns gegenüber sehr freundlich und aufgeschlossen.
Das Ausmaß der Katastrophe wird uns langsam klar
Dann erreichen wir den Fluß Swat. Für mich sieht alles ganz normal aus, die Gegend erinnert mich an die Alpen. Gut, das Flussbett ist sehr breit und die Wassermassen zwängen sich durch vergleichsweise kleine Rinnen. Der Rest des Tals besteht aus Schotter und Geröll. Dann jedoch passieren wir eine etwa einen Kilometer lange Brücke. Zwischen der Fahrbahn und dem Schotterbett ist nur wenig Platz und einige Teile der Brücke fehlen ganz. Wir halten an und finden die fehlenden Pfeiler sowie die Fahrbahn einige hundert Meter flussabwärts. Das Wasser hat die mehrere hundert Tonnen schweren Betonteile einfach fortgerissen. Damit ist die Hauptverbindungsader zwischen den beiden Ufern zerstört.
Hier ist die Präsenz des Militärs in der Region zum ersten Mal ein Segen. Denn binnen weniger Tage nach der Katastrophe haben die Soldaten eine stromaufwärts liegende Fußgängerbrücke zu einer einspurigen Straße umfunktioniert und befestigt. Über diese Brücke, die noch aus Zeiten der britischen Besatzung stammt, wird nun der gesamte Verkehr geleitet. Lange Staus auf beiden Seiten mit ewigen Wartezeiten sind die Folge.
Wir setzen unseren Weg fort. Flussaufwärts sehen wir weitere zerstörte Brücken. Auch dort hilft das Militär. Die Soldaten errichten einfache Seilbahnen, die die beiden Ufer verbinden. So kann wenigstens ein Minimum an Transport und Austausch von Menschen und Waren stattfinden.
Bald darauf erahnen wir die Tragweite der Katastrophe. Plötzlich endet die Straße an einem etwa 15 Meter tiefen Abgrund. Einige hundert Meter weiter erkenne ich den Punkt, an dem der Weg weitergeht. Dazwischen ist alles weg. Ursprünglich war hier ein Bazar mit Geschäften entlang der Fahrbahn. Nun gähnt ein Abgrund. Nur wenige Geschäfte hat die Flut verschont. Ihre Eingänge stehen jetzt am Rande der Schlucht.
An vielen Orten ist die Lage ähnlich: Teilweise fehlen 50 bis 60 Häuser. Auch Felder sehen aus wie mit dem Messer abgeschnitten. Der Mais endet direkt an einem tiefen Abgrund. Häuser, die am Gleithang gebaut wurden, stehen zwar noch. Sie sind aber mit Geröll und Schotter verschüttet und nicht mehr bewohnbar.
Immer wieder müssen wir aussteigen und zum nächsten kurzen Stück intakter Straße laufen. Dann steigen wir in Taxis, die in diesem Teil des Wegs eingeschlossen sind, und lassen uns ein Stück weiter fahren. Plötzlich zeigt ein Fahrer auf eine Schotterbank am gegenüberliegenden Ufer. „Siehst du die Kinder, die dort spielen?“, fragt er mich. Nach einigem Suchen entdecke ich sie und frage, was mit ihnen sei. „Nichts“, meint er, „aber dort stand bis vor kurzem ihre Schule.“ Das ist das Fatale an der Katastrophe: Dass Außenstehende ihren Umfang nur schwer erahnen können. 2005 war ich kurz nach dem verheerenden Erdbeben in Kashmir. Ganze Ortschaften waren eingestürzt, Berghänge abgerutscht, Quellen versiegt. Die Zerstörung war sichtbar, für jeden offensichtlich. Jetzt ist das anders. Wo früher Dörfer und Krankenhäuser standen, Felder und Äcker waren, ist nur noch ein breites Flussbett zu sehen. Kaum Trümmer, kaum Schutt eingestürzter Häuser. Alles haben die Wassermassen mitgenommen.
Dann ist der Weg ganz zu Ende. Ab diesem Punkt gibt es nach Aussage unserer Partnerorganisation nur noch die Möglichkeit, die Hilfe aus der Luft zu organisieren. Und tatsächlich: Immer wieder sehen wir Hubschrauber, die Hilfsgüter in jene Bergregionen bringen, die gegenwärtig nicht einmal zu Fuß erreichbar sind.
Eine weiterer Aspekt der Katastrophe
Immer wieder begegnen uns Menschen mit Säcken auf Rücken oder Kopf. Ich frage, was sie transportieren, denn sie gehen nicht in das von der Flut betroffene Gebiet, sondern kommen von dort. „Das weist auf einen anderen Teil der Katastrophe hin“, sagt man mir. Denn die zerstörten Verkehrswege machen es den Bauern weiter oberhalb des Tals unmöglich, ihre Ernte auf dem Markt zu verkaufen. Da es sich meist um verderbliche Produkte wie Gemüse handelt, können sie mit dem Verkauf auch nicht warten. Mit einem Teil der Ernte können sich die Menschen sicherlich gegenseitig gut helfen, die kommenden Wochen zu überstehen. Aber nicht alles Gemüse kann vor Ort verzehrt werden. Somit geht den Bauern das für den kommenden Winter so wichtige Einkommen verloren.
Den Menschen, deren gesamte Existenz von den Fluten mitgerissen wurde, fehlt es neben Nahrungsmitteln an vielen Dingen des täglichen Bedarfs. Entsprechend hat unsere lokale Partnerorganisation, die seit zehn Jahren mit den nun durch die Flut betroffenen Menschen arbeitet, mit viel Überlegung und nach genauer Erkundung der Situation die Nothilfepakete zusammengestellt. Was darin enthalten ist, ist dort in den Bergen nicht mehr zu kaufen – und wird langsam knapp.
In Pakistan hält die Familie in Notsituationen zusammen
Die meisten der Flutopfer haben noch Verwandte in der Region, bei denen sie unterkommen können. Aber auch die sind meist einfache, arme Bauern, die nun neben ihrer eigenen Familie noch die Verwandtschaft versorgen müssen. Das ist eine große Stärke der Menschen in Pakistan: Auf die Familie ist in Notzeiten Verlass. Man hilft sich gegenseitig. Doch es kann nur das geteilt werden, was da ist.
„Was passiert, wenn die verteilten Nahrungsmittel aufgebraucht sind, werden dann weitere Hilfslieferungen folgen?“, frage ich unsere Partner. „Zunächst nicht“, antwortet Irfan, einer der Projektleiter aus Islamabad. „Wir dürfen die Menschen nicht in eine zu große Abhängigkeit von kostenlosen Hilfsleistungen bringen.“ Sie müssten sich möglichst schnell selbst wieder organisieren. Dazu ist diese erste Hilfe unbedingt notwendig. Nur so hätten die Menschen die Möglichkeit, sich zu orientieren und nach Lösungen zu suchen. Gefragt sei jetzt vor allem der Staat, er müsse die zerstörte Infrastruktur wieder aufzubauen. „Das kann keine Hilfsorganisation leisten“. Vielleicht, fügt Ifran hinzu, wird es tatsächlich nochmals äußerer Hilfe mit Nahrungsmitteln bedürfen. Dann nämlich, wenn es den Menschen bis zum Winter nicht gelingt, genug Lebensmittel zu besorgen, um die Zeit bis zur nächsten Ernte zu überbrücken. „Aber das sollten wir zunächst abwarten.“
Die Helfer verteilen nicht wahllos
Ich habe ein gutes Gefühl bei diesem Besuch. Die Helfer verteilen nicht übereilt und wahllos. Sie überlegen genau und vor allem gemeinsam mit den betroffenen Menschen, welche Hilfe am Dringendsten gebraucht wird. Für diese Hilfe wird den Menschen viel abverlangt: Weil weiter talaufwärts gelegene Dörfer derzeit nur zu Fuß erreichbar sind, wurde das Lager für die Hilfsgüter am Ende des noch intakten Straßenstücks angelegt. Dort müssen die vorher sorgfältig ausgewählten und registrierten Familien ihre Hilfspakete selbst abholen – und anschließend die Säcke bis zu 40 Kilometer weit zurück in die Berge tragen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Aber die Menschen sind dankbar für die Hilfe und nehmen die Beschwerlichkeit und die langen Wege gerne auf sich.
Ist die Hilfe wirklich immer sinnvoll?
Als wir zu unserem Wagen zurücklaufen, treffen wir auf den Transporter einer anderen Hilfsorganisation. Sofort scharen sich Menschen um den Lkw, um etwas von der Ladung zu bekommen. Erst gibt es Gedränge, dann lautes Getümmel. Schließlich beginnen erste Rangeleien, die nur wegen des auch hier anwesenden Militärs nicht ausufern.
Wieder bin ich froh, dass die durch MISEREOR geförderten Hilfslieferungen sorgfältig vorbereitet und geordnet durchgeführt werden. Dann sehe ich, was dort verteilt wurde: Wasser in Flaschen. Ob das Wasser, das wir weiter oberhalb im Tal in einem kleinen Laden gekauft haben, vielleicht von einer solchen Hilfslieferung stammt? Vor allem stellt sich mir die Frage: warum Wasser? Denn anders als im flachen Süden Pakistans, wo sauberes Trinkwasser dringend benötigt wird, gibt es hier viele Quellen aus den Bergen, die reichlich sauberes Wasser führen. Lediglich an Gefäßen für den Wassertransport fehlt es, weshalb jedes unserer Hilfspakete auch einen Kanister enthält.
Auf dem Weg zurück in unser Hotel bricht die Dunkelheit herein. Es ist Iftar, das tägliche Fastenbrechen während des Ramadan. Wir halten an, damit Irfan sich eine Kleinigkeit zum Essen kaufen kann. Prompt klopft es an die Scheibe. Ein Mann reicht mir einige Datteln und lädt mich zum Abendessen ein. Leider muss ich ablehnen, wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Ist das jenes gefährliche Pakistan, das nur aus Taliban und religiösen Extremisten besteht? Sicherlich nicht.