Heute, 19:00: Ein Aufschrei in den Bars hier in Olinda, in denen die roten T-Shirts der Unterstützerinnen und Unterstützer der amtierenden Präsidentin überwiegen, gefolgt von Schlachtrufen und Samba-Musik: Dilma Rousseff stand bei der ersten offiziellen Hochrechnung bei 50,99% und der Gegenkandidat Aécio Neves bei 49,01%. Gut zwei Stunden später sind dank des fortschrittlichen elektronischen Wahlsystems alle Stimmen ausgezählt mit dem Endergebnis um 21:30: Dilma: 51,64%, Aécio: 48,36%. Autokorsos, Hupkonzerte und Böller hier im Bundesstaat Pernambuco, in dem Dilma über 70% der Stimmen gewonnen hat.
Eine Präsidentenwahl auf einer Dienstreise hautnah zu erleben, gehört auch für uns Projektverantwortliche nicht zum Tagesgeschäft. Und diesmal, im Gegensatz zu 2010, als ich beim ersten Wahlgang auch in Brasilien war, der Sieg der PT aber erwartet wurde, war es so spannend, dass selbst ich heute Herzklopfen hatte, als ich abends den Fernseher eingeschaltet habe. Seit Monaten gibt es in praktisch jedem Gespräch kein anderes Thema. „Vote consciente“( „Wähle bewusst“), riefen sich die Leute heute Morgen über die Straße zu. Ein Beweis dafür, dass Brasilien heute eine stabile Demokratie ist, auch wenn noch immer eher Personen als Parteien oder gar Parteiprogramme gewählt werden.
Die Kandidatinnen und Kandidaten
Brasilien wird seit 2003 von der Arbeiterpartei PT („Partido dos Trabalhadores“) regiert. Zunächst acht Jahre lang von Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva, seit 2011 von Dilma Rousseff, seiner Nachfolgerin im Amt. Dilma hat die Progamme, die unter Lula begonnen wurden, fortgeführt, sowohl, was die großen Infrastukturprogramme betrifft (Bau von Straßen, Häfen, Wasserkraftwerken, Elektrifizierung etc.), als auch in Bezug auf die sozialen Programme zugunsten der armen Bevölkerung. Dennoch hat sie nie eine solche Popularität im Volk erreichen können wie Lula, der als Arbeiterkind aus dem Nordosten der großen Mehrheit der Brasilianerinnen und Brasilianer aus kleinen Verhältnissen, aus dem Herzen sprach. Insofern war klar, dass es eng werden könnte bei dieser Wahl. Aber erst kurz vorher war klar, dass es SO eng werden könnte!
Im August kam der erste Schock: der aussichtsreichste Gegenkandidat zu Dilma, Eduardo Campos von der PSB („(Partido Socialista Brasileiro“), einer Partei, die sich links von der regierenden Arbeiterpartei PT sieht, starb bei einem Flugzeugabsturz. Seitdem kam das Land nicht mehr zur Ruhe. Zunächst stieg die Vizekandidatin der PSB, Marina Silva, zur großen Gegenkandidatin von Dilma auf. Ehemals Umweltministerin der PT unter Lula, kandidierte sie 2010 als Präsidentschaftskandidatin für die Grünen („Partido Verde“) und erlangte mit ca. 20% der Stimmen einen Achtungserfolg. Und auch diesmal schaffte sie es, die Unzufriedenen hinter sich zu sammeln. Bis unmittelbar vor dem ersten Wahlgang am 5. Oktober gingen alle davon aus, dass sie die Gegenkandidatin im zweiten Wahlgang werden würde (der stattfindet, wenn im ersten Wahlgang keine/r der Kandidat(inn)en die absolute Mehrheit erreicht). Aber dann überraschten sich die Brasilianerinnen und Brasilianer selbst: Marina Silva blieb mit 21,32% auf dem dritten Platz, und Aécio Neves, Kandidat der PSB, trotz des Namens eine eher rechts angesiedelte Partei, kam mit 33,55% auf den zweiten Platz hinter Dilma (41,59%).
Der Wahlkampf
Damit hatte niemand gerechnet. Wieder sollte es, wie auch schon bei den vier vorherigen Präsidentschaftswahlen (das Staatsoberhaupt wird in Brasilien direkt vom Volk gewählt), ein Rennen zwischen PT und PSB geben. Und es wurde ein Kopf-an-Kopf Rennen, trotz des bequemen Vorsprungs von Dilma im ersten Wahlgang. Denn die 20% Silva-Wählenden waren heiß umkämpft, der Wahlkampf ging bis zur allerletzten Minute. Anhängerinnen und Anhänger der jeweiligen Parteien beklebten ihre Autos dermaßen, das man sich fragte, ob sie beim Fahren noch etwas sehen konnten, ganze Häuser waren mit Fahnen und Plakaten „geschmückt“ und selbst auf den Handläufen von Treppenaufgängen waren die runden Aufkleber der Parteien zum Greifen nahe!
Enttäuschung und Hoffnung
Ich habe Projektpartner getroffen, die generell von der Politik frustriert sind: „Bei dieser Wahl gibt es keine Wahl“ sagen sie und meinen, dass auch die „linke“ PT, trotz der unzweifelhaften Erfolge bei der Bekämpfung der Armut durch Sozialtransferprogramme, sich nicht um die wichtigen Themen Umweltschutz, traditionelle Völker oder Landrechtsicherung kümmern will. Und deshalb sei es schon fast egal, ob „rechts“ oder „links“ gewinnt, denn beide Seiten hätten nur die Ausbeutung von natürlichen Reichtümern und das herrschende Wachstumsmodell im Sinn. Andere widersprechen, denn so kritisch sie viele Entscheidungen der PT (wie z.B. die Umgestaltung des Waldrechtes) sehen, sind sie doch davon überzeugt, dass unter einer rechtsgerichteten Regierung die sozialen Fortschritte rückgängig gemacht würden. Sie hoffen, dass die Fortführung der Regierung der Arbeiterpartei zumindest das Erreichte garantiert, und dass die jetzt wiedergewählte Präsidentin eher für weitere Vorschläge der Zivilgesellschaft in Richtung einer gerechteren Gesellschaft offen ist.
Das bleibt wirklich zu hoffen, denn klar ist heute nur: 51,64% der Wählerinnen und Wähler werden morgen zu spät zur Arbeit kommen, denn diese Nacht wird lang!
Almute Heider ist Länderreferentin für Brasilien und befindet sich derzeit in Olinda, Pernambuco.