Unsere heutige und letzte Station unserer Reise ist die Küstenstadt Tacloban – die Stadt, die im November 2013 durch den Super-Taifun Haiyan mit verheerenden Auswirkungen getroffen wurde. Elmar Noe, Philippinen-Experte bei Misereor, nennt uns noch einmal einige Zahlen: nach offiziellen Angaben kommen 8000 Menschen ums Leben – die Dunkelziffer liegt sehr viel höher.
Mehrere Millionen verlieren ihre Wohnstätten, insgesamt sind 14 Millionen Menschen von den Zerstörungen betroffen. Auf einer Breite von 80 Kilometern trifft Yolanda – so wird der Taifun hier genannt – mit einer Geschwindigkeit von über 200 Kilometer auf die Küste. Unglaubliche Zahlen. Mich beschleicht ein beklemmendes Gefühl, als wir im Dunkeln die Stadt erreichen: wir befinden uns in einem Katastrophengebiet – wie wird die Stadt aussehen, wie viel ist noch zu sehen von den Zerstörungen vor 1 ¼ Jahren?
Erinnerungen an die Katastrophe
Ich erlebe eine lebendige und geschäftige Stadt am Morgen nach unserer Ankunft. Im Zentrum sind keine Spuren des Wirbelsturms bzw. der Überschwemmungen mehr zu sehen, aber entlang der Küstenlinie erkenne ich noch deutlich die Wucht der Zerstörungen: notdürftig mit Wellblechplatten zusammengehaltene Unterkünfte, Überreste von Häusern, eine zerstörte Hafenmauer, abgeknickte Bäume – es gibt so gut wie keine Palmen mehr in der Stadt. Unsere Fahrt auf einer belebten Straße geht vorbei am Bug eines großen Fischtrawlers, fast versperrt er die Straße. Der Taifun hat das Schiff vom Hafenbecken mehrere hundert Meter aufs Land gespült. Das Schiffswrack soll jetzt als Mahnmal an die Katastrophe erinnern.
Unsere Fahrt geht weiter zu dem Friedhof, auf dem die Opfer der Katastrophe begraben liegen. Bewegt und erschüttert stehe ich vor einem riesigen Gräberfeld. Vor mir mehrere tausend schlichte weiße Holzkreuze, in kurzen Abständen und in langen Reihen gesetzt. Eine Aufschrift verbindet alle Kreuze: 8. November – es ist der Tag der Katastrophe. Nach einigen Minuten des Gedenkens und des Gebets schweifen meine Gedanken ab: die zunehmende Intensität und Häufigkeit der Taifune und damit verbundenen höheren Opferzahlen haben mit den Veränderungen des Klimas zu tun. Diese Erkenntnis ist mittlerweile wissenschaftlich nicht mehr umstritten. Warum schafft es die Politik dann nicht, wirksame Gegenmaßnahmen einzuleiten und damit Menschenleben zu retten? Wie steht es um unsere individuelle Lebensweise? Jeder Mensch in Deutschland produziert im Durchschnitt jährlich um die 11 Tonnen CO 2, der Philippiner eine Tonne. Warum müssen diejenigen unter der Veränderung des Klimas am meisten leiden, die am wenigsten dafür verantwortlich sind? Ich nehme mir vor, nach meiner Rückkehr endlich meinen ökologischen Fußabdruck zu berechnen und konkrete Verhaltensweisen einzuüben, um den Wert zu minimieren.
Sprachlosigkeit überwinden und Lösungen finden
Anschließend besuchen wir verschiedene Misereor-Partner und bekommen einen Eindruck von ihrer Arbeit. Ich bin mit Jolli A.Torrella von UPA (Urban Poor Associates) unterwegs, er erklärt mir die Prinzipien und Arbeitsfelder „seiner“ NRO. Die Siedlungszone unmittelbar am Meer wird auf den Philippinen als Barangay bezeichnet, zugleich ist mit einer Barangay eine regionale Strukturierung entlang der Küstenlinie möglich. Im Bereich der Stadt Tacloban gibt es etwa 500 verschiedene Barangays, sie wurden durch Yolanda fast vollständig zerstört.
Jolli engagiert sich mit seinem Team in zehn Barangays, zu denen etwa 2400 Familien gehören. Es geht ihnen darum, die Menschen in ihrer schwierigen Situation zur Selbstorganisation zu befähigen. Wichtig ist es, Mut, Selbstvertrauen und Solidarität zu fördern, um die eigene Sprachlosigkeit zu überwinden. Sie müssen ihre eigene Analyse der Situation anstellen und eigene Lösungen finden. „Empowerment for the poor“ – diese englischen Worte habe ich auf unserer Reise oft gehört. Sie scheinen die Leitlinie für die Entwicklungszusammenarbeit von Misereor vorzugeben; dabei ist eine klare Übersetzung ins Deutsche gar nicht so einfach. Vielleicht könnte man sagen: Übertragung von Verantwortung auf die Armen. So haben die Menschen erkannt, dass die Unterkunft in Zelten keine Lösung sein kann. Zurzeit bauen sie selbstständig kleine, stabile Holzhäuser aus Spannplatten, die auf einem Fundament von vier Pfeilern in etwa 50 Zentimeter Höhe stehen. Die Materialien stellt UPA zur Verfügung. Ich gehe an vielen dieser Häuser vorbei und bin beeindruckt. Umso überraschter bin ich, als Jolli mir erzählt, dass diese Unterkünfte keine dauerhafte Lösung sein können. Die Stadtregierung untersagt die unmittelbare Siedlung am Meer, die Häuser sind damit eher nur geduldet. In Verhandlungen mit der Regierung muss nach einer dauerhaften Lösung gesucht werden. „Permanent houses are a permanent solution – permanente Häuser sind eine permanente Lösung.“ Mit diesem Satz beschreibt er die eigentliche Zielsetzung seiner Arbeit. Und bei mir konzentriert sich der Gedanke: NRO-Arbeit ist Lobbyarbeit für die Armen und Ausgegrenzten.
Wirtschaft, die tötet
Am Nachmittag lausche ich gespannt der Präsentation von Yoli Esquerra, sie koordiniert die vielfältigen Arbeitsfelder des Misereor-Partners PMP (Philippine Misereor Partnership). Es sind die Arbeitsbereiche einer „klassischen“ NRO: Armutsbekämpfung, Friedensförderung, Umwelt- und Ressourcenschutz, Menschenrechte, nachhaltige Landwirtschaft, Küstenressourcenschutz angesichts des Klimawandels. Länger unterhalten wir uns über die Anti-Minen-Kampagne von PMP. Es geht um die negativen Folgen des Nickel-Abbaus für die Umwelt und Bevölkerung, um rücksichtslose Naturzerstörung ohne jeden Vorteil für die Menschen vor Ort. Dabei wird auch deutlich, dass diese Arbeit lebensbedrohlich werden kann, es gibt Fälle, wo Menschen gezielt getötet wurden. Auch die Spaltung betroffener Familien ist an der Tagesordnung. „Gewaltfreier Widerstand gegen die Logik der Konzerne“, so bezeichnet Generalvikar Theo Paul diese Arbeit und versucht Mut zuzusprechen. Ich erinnere mich an den Satz von Papst Franziskus aus Evangelii Gaudium: „Diese Wirtschaft tötet“. Wir sehen nur die „glänzende Oberfläche“ der Produkte, in denen der Rohstoff Nickel enthalten ist; was dahinter steht, sehen wir nicht. Und mir wird deutlich: Als Kirche unterstützt Misereor die NRO’s in ihrer politischen Arbeit für die Interessen der am meisten Verletzlichsten, wie auch Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel häufiger betonte.
Hope for the hopeless – Hoffnung für die Hoffnungslosen
Unsere letzte Station ist an diesem Tag ein Besuch von Radyo Abante Multimedia. „Communication is aid – Kommunikation ist Hilfe“. Diese Aufschrift sehe ich auf mehreren T-Shirts in den Räumen des Radiosenders. Hier lerne ich einen „ganz anderen“ Sender kennen. Er hat sich als Folge der Yolanda-Katastrophe gegründet, mehrere Mitarbeiter sind ihr nur knapp entkommen und sehen im Aufbau der Radiostation eine Verpflichtung. Hintergrund ist das große Bedürfnis der Barangay-Gemeinschaften (Communitys) nach Information; über den Sender können Ratschläge, Hilfestellungen und wichtige Informationen weitergegeben werden. Natürlich gibt es auch ein Musik- und Unterhaltungsangebot. Aber es geht auch um emotionale und psychische Stärkung und Unterstützung. Das Wort abante bedeutet so viel wie vorwärts; „Hope for the hopeless“ – Hoffnung für die Hoffnungslosen, so benennt eine Mitarbeiter die Zielsetzung des Senders. Diese -Kommunikation-Aid- wurde vor einigen Wochen konkret, als ein „kleiner“ Sturm vor der Küste aufzog und die Menschen durch den Sender entsprechend gewarnt und vorbereitet werden konnten.
Es sind natürlich auch kirchliche Begegnungen, die unsere Reise prägen. Die Kirche der Philippinen ist eine junge und lebendige Kirche, beeindruckend die sehr hohe Zahl der jungen Menschen in den Gottesdiensten und auf den Schulhöfen, aber trotzdem kommt mir immer wieder ein Gedanke in den Sinn (und ich wehre mich, dies als eurozentrische Sicht zu bezeichnen): wenn diese Kirche in globaler und sozialer Perspektive zukunftsfähig sein will, muss sie ihre Position zur Familie und Ehe ändern und stärker die „verantwortete Elternschaft“ (und Ehe) einfordern. Erste Signale dazu gibt es, wie die Gespräche mit Erzbischof Ledesma deutlich machten.
Über den Autor: Hubert Hoffmann ist Lehrer am Graf-Stauffenberg-Gymnasium Osnabrück und arbeitet ehrenamtlich im Bistum Osnabrück an den Themenfeldern Gerechtigkeit, Schöpfungsverantwortung und Frieden. Gemeinsam mit einer Gruppe von Journalisten und Verantwortlichen der Diözese Osnabrück besuchte er im Rahmen der Fastenaktion 2015 Partnerorganisationen von MISEREOR auf den Philippinen.
Die Projekte zur Fastenaktion 2015
Das Leben auf den Philippinen bedeutet ein Leben am Wasser. Besonders die Fischer des Landes bekommen die Folgen der Klimaveränderung hautnah zu spüren. MISEREOR-Projekte unterstützen die Menschen dabei, ihre Lebensweise der veränderten Situation anzupassen, so ihren Lebensraum zu bewahren und Katastrophen vorzubeugen.